Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
spät. Er hat wohl seine letzten Arbeiten erledigt, ehe er diesem Ort für immer den Rücken gekehrt hat – und genau das mache ich auch.«
»Und was passiert jetzt?«
»Was jetzt passiert, ist, dass ich packe, nach Hause fahre und weiterlebe. Es ist höchste Zeit.«
»Und Sie kommen klar damit?«
Sie nimmt die Gläser und bringt sie zum Spülbecken. Sie lässt das Wasser laufen und redet zum Fenster hin. »Ich komme klar. Ich habe es doch bisher auch geschafft, oder? Ich werde es überleben.«
Während sie redet, fällt mein Blick auf den Schreibblock. Was hat sie ihm wohl geschrieben? Wie ist es, fünfzig zu sein und zu lieben? Ich wusste nicht, dass das noch geht!
»Darf ich ihn lesen?«, frage ich nervös. Habe ich das wirklich gefragt? Jenny Green stellt nicht solche Fragen! Aber dann wird es mir klar – Jenny Green ist nicht mehr dieselbe, die sie mal war. Und ich meine nicht nur den Haarschnitt und die engeren Klamotten. Ich meine mehr als das – etwas in ihrem Inneren.
Mrs Smith dreht sich um. »Was lesen?«
»Den Brief«, sage ich beklommen. Und dann kommt mir ein Gedanke. Ein halb ausgegorener. Ich weiß nicht mal genau, was für eine Idee das ist und schon gar nicht, ob ich sie umsetzen kann. Ich weiß nur, dass ich versuchen muss, irgendwas zu unternehmen. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Mr Barraclough sie noch genauso liebt wie sie ihn. Sie kann ich anscheinend nicht überreden, das Risiko einzugehen, um es herauszufinden. Aber vielleicht habe ich ja die Möglichkeit, das zu tun. Und wenn ich wüsste, was in dem Brief steht, würde das vielleicht helfen. »Darf ich ihn lesen?«, setze ich hinzu. »Um besser zu verstehen, was Sie durchgemacht haben?«
Sie trocknet die Hände an einem Handtuch ab und kommt an den Tisch zurück. »Weißt du, was?« Zum ersten Mal, seit wir uns unterhalten, lächelt sie ungezwungen. »Ich habe eine bessere Idee.«
Dann nimmt sie den Block, reißt die drei obersten Blätter ab und reicht sie mir. »Nimm ihn«, sagt sie.
Ich sehe die Seiten mit ihrer blumigen Handschrift an. »Warum?«
»Ich habe mir geschworen, den Brief zu schreiben und ihn dann zu vernichten. Ich habe nicht festgelegt, auf welche Weise. So werde ich den Brief los – und du hast eine bleibende Erinnerung.«
»An was?«, frage ich.
»An das, was passiert, wenn man einfach hinnimmt, was einem widerfährt, und sich nicht genug bemüht, es zu ändern. Für mich ist es zu spät – und vielleicht war es das immer. Aber ich will nicht, dass du ein Leben wie meines vor dir hast. Bemühe dich mehr als ich – solange noch Zeit ist!«
Sorgfältig falte ich den Brief zusammen und stecke ihn in die Tasche. »Danke.«
Mrs Smith lächelt und wischt sich die Hände an ihrem Kleid ab. »Das wär’s dann«, sagt sie. »Erledigt. Eigentlich sollte ich mich bei dir bedanken.«
»Ich muss zurück«, sage ich und stehe auf. Das Gespräch mit Mrs Smith hat einige Fragen beantwortet, aber ich brauche weitere Antworten. Ich muss noch herausfinden, wie es mit Julis Familie weitergegangen ist – und mit meiner.
Sie hält mir ihre Hand hin. »Viel Glück, Jenny. Ich hoffe, dein Leben verläuft anders als meines.«
»Danke«, sage ich. Sie zieht mich an sich und umarmt mich fest.
»Nimm das Leben nicht einfach so hin, als sei es unabänderlich«, sagt sie an der Tür. »Hinterfrage alles. Mache den Versuch, das Unmögliche zu erreichen. Sei mutig. Tust du das für mich, Jenny?«
»Ja«, sage ich. »Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun.«
Sie greift noch einmal nach meiner Hand. »Ich komme klar, Jenny. Alles bestens.«
Ich nicke und versuche zu lächeln, dann drehe ich mich um und gehe zur Treppe.
10
»Da bist du ja!«
Ich komme gerade aus der Tür von Julis Trakt, da läuft Mum auf mich zu. Ich habe die Treppe genommen, denn ich muss hierbleiben, zwei Jahre weiter. Ich muss wissen, was alles passiert.
»Komm mit«, sagt Mum.
»Komm mit wohin?«
»Wir müssen los. Ich habe nach dir gesucht.«
»Wohin denn?«
Mum seufzt. »In die Eis-Probierstube. Los, Jenny. Craig ist mit Thea im Apartment. Ich habe gesagt, ich wäre nur ein paar Minuten weg. Nun mach schon.« Sie lächelt. »Ich bin schon auf Theas Gesicht gespannt, wenn sie die vielen Eissorten sieht!«
Wir stehen vor dem Erdgeschoss-Apartment, in dem Juli letztes Jahr war. Ob sie noch dort ist? Was hat sich verändert? Ich muss es unbedingt herausfinden. Und ich will auch unbedingt den Brief von Mrs Smith lesen. Ich
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