Ein Jahr ohne Juli (German Edition)
abgestellt.«
»Wieso schimpfst du eigentlich nie richtig mit Jenny?«, beklagt sich Craig. Ich kneife ihn ins Bein und springe aus dem Wagen.
»Bin bald zurück«, sage ich. »Muss nur was nachsehen.«
Ich renne hinüber zu Julis Trakt. Als ich mich dem Apartment nähere – dem neuen im Erdgeschoss –, geht die Tür auf, und Julis Vater kommt heraus.
»Hallo, Jenny«, sagt er. Er sieht aus, als ob er ganz schön viel abgenommen hat, und sein Haar ist grau, aber abgesehen davon, wirkt er ganz normal. Er lächelt sogar.
»Hi, Mr Leonard«, sage ich unsicher. Ist er auf dem Weg ins Pub?
Er nimmt eine Staffelei und einen Kasten mit Farben, die neben der Tür stehen. »Bin gerade auf dem Weg in den Wald, auf der Suche nach Inspirationen«, sagt er. »Ich finde, das hier ist ein angemessener Ort, um einen Neuanfang zu machen. Wünsch mir Glück.« Dann deutet er ins Apartment. »Sie ist drinnen mit ihrer Mutter«, sagt er. »Bis später.«
Ich gehe hinein, bleibe aber erst mal im Flur stehen. »Hallo?« Meine Hände sind verschwitzt. Was werde ich diesmal vorfinden?
»Hier hinten«, ruft Mrs Leonard aus dem Wohnzimmer.
Sie lässt einen Haufen Wäsche auf das Sofa fallen und klappt ein Bügelbrett auf. »Das habe ich gerade in einem Wandschrank entdeckt. Ich dachte, ich bügle mal ein bisschen«, sagt sie. »Kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gebügelt habe.«
Ich auch nicht! Ich glaube, die Leonards hatten immer eine Haushaltshilfe, die solche Arbeiten erledigt hat. Julis Mutter war immer viel zu glamourös, um zu bügeln !
Sie schließt das Bügeleisen an und schaltet es ein. »Juli ist in ihrem Zimmer«, sagt sie. »Geh nur rein. Ich glaube, du bist heute genau die richtige Aufmunterung für sie.«
»Heute?«, frage ich. »Warum gerade heute?«
Mrs Leonard verdreht die Augen. »Das ist eben heute mal wieder so ein Tag. Gut, dass du gekommen bist. Du kannst damit viel besser umgehen als ich.«
Dann wendet sie sich ihrem Wäscheberg zu, und ich gehe zu Julis Zimmer. So ein Tag? Was für ein Tag? Auf was muss ich mich gefasst machen?
Ich klopfe an. Keine Antwort.
»Juli?« Ich öffne die Tür. Sie ist im Zimmer. Sie sitzt mit abgewandtem Gesicht auf dem Bett.
»Warum hast du nicht geantwortet?«, frage ich und versuche, unbeschwert zu klingen, trotz des Zitterns in meiner Stimme.
Sie zuckt mit den Schultern.
»Juli?« Ich gehe durchs Zimmer und stelle mich vor sie. Sie sieht verändert aus. Ihr Gesicht ist blass und hager; ihre schönen roten Haare sind strähnig und matt, noch mehr als beim letzten Mal. Sie sieht ungefähr zehn Jahre älter aus als sie ist – oder bin ich womöglich noch mehr Jahre nach vorne gerutscht?
Sie sieht zu mir auf. »Was machst du denn in den alten Klamotten?«, fragt sie.
Ich sehe an mir hinunter und komme mir albern vor. Für Juli trage ich Sachen, die seit zwei Jahren veraltet sind. »Ich weiß auch nicht«, sage ich und versuche, munter zu klingen. »Aber ich bin nicht hergekommen, um über meine Klamotten zu reden!«
»Und warum bist du hergekommen?«, fragt sie missmutig.
»Um dich zu sehen natürlich«, sage ich. »Hab nicht gewusst, dass ich einen bestimmten Grund brauche!«
»Alles hat seinen Grund«, sagt Juli. Als bittere Nebenbemerkung fügt sie hinzu: »So scheint es wenigstens.«
»Wie meinst du das?«, frage ich und setze mich neben sie aufs Bett.
Wieder zuckt sie mit den Schultern. »Es ist egal.«
»Es ist nicht egal. Sag schon.«
Juli stößt schwer die Luft aus. »Ach, das ist nur so etwas, das ich in einem der Millionen Selbsthilfebücher von Mum gelesen habe.«
Die Vorstellung, dass Julis Mutter Selbsthilfebücher liest, ist meilenweit von der Wirklichkeit entfernt, und wenn ich selbst noch einen Schimmer davon hätte, was die Wirklichkeit ist, würde ich auf der Stelle laut loslachen. Aber ein Blick auf Julis Gesicht genügt, und Loslachen ist Millionen Lichtjahre von dem entfernt, was mir durch den Kopf geht. Ihre Augen sind gerötet, ihre Wangen eingefallen – ihr Gesicht sieht genauso leer aus, wie ihre Stimme klingt.
»All das hier. Mum sagt immer, dass es einen Grund dafür geben muss. Als ob die Tatsache, dass Mikey seit zwei Jahren in einem Krankenhausbett liegt, so eine Art Test für die Familie ist – und als ob sie entschlossen ist, ihn zu bestehen.«
»Die beiden scheinen ja besser damit zurechtzukommen in diesem …« Fast hätte ich in diesem Jahr gesagt, kann aber gerade noch abbrechen. In Julis
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