Ein Jahr voller Wunder
»Aber es stimmt.«
Die Religion meiner eigenen Familie war ein blutleerer Ableger des Luthertums – wir hüteten keine Geheimnisse, und wir hegten keine klare Vorstellung vom Weltuntergang.
»Bist du noch dran?«, fragte Hanna.
Das Sprechen fiel schwer. Eine Minute lang stand ich nur auf dem Rasen und bemühte mich, nicht zu weinen.
»Du ziehst also für immer weg?«, sagte ich schließlich.
Im Hintergrund hörte ich Hannas Mutter ihren Namen rufen.
»Ich muss los«, sagte Hanna. »Ich ruf dich wieder an.«
Sie legte auf.
»Was hat sie gesagt?«, fragte meine Mutter von der Veranda.
Ein fester Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet.
»Nichts«, sagte ich.
»Nichts?«
Tränen schossen mir in die Augen. Meine Mutter sah sie nicht.
»Ich möchte wissen, warum dein Vater uns nicht angerufen hat«, sagte meine Mutter. »Glaubst du, sein Handy ist leer?«
»Mein Gott, Mama«, sagte ich. »Du machst alles noch schlimmer.«
Sie verstummte und sah mich an.
»Sei nicht so neunmalklug«, blaffte sie. »Und sag nicht Gott.«
Ein leichtes statisches Rauschen störte den Radioempfang, und meine Mutter drehte am Knopf, bis es aufhörte. Ein Experte aus Harvard sprach: »Wenn das anhält«, sagte er, »wäre das katastrophal für jede Art von Nutzpflanze, für die Nahrungsmittelversorgung der gesamten Welt.«
Wir saßen einen Moment lang schweigend da.
Dann hörten wir aus dem Haus plötzlich einen gedämpften Knall, das feuchte Aufklatschen von etwas Weichem auf Glas.
Wir schraken beide auf.
»Was war das?«, fragte sie.
Das Unvorstellbare war vorgestellt, das Unglaubliche geglaubt worden. Nun kam es mir vor, als lauerten überall Gefahren. Drohungen krochen aus jeder Ritze.
»Es klang nicht gut«, sagte ich.
Wir liefen schnell ins Haus. Wir hatten nichts aufgeräumt, und die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld. Mein Bagel vom Morgen lang halb gegessen auf einem Teller, genau wo ich ihn acht Stunden vorher hingelegt hatte, der Frischkäse war an den Rändern eingetrocknet. Ein Jogurtbecher war von den Katzen umgekippt und sauber ausgeleckt worden. Jemand hatte die Milch draußen stehen gelassen. Da erst merkte ich auch, dass Hanna ihr Fußball-Sweatshirt auf einem Stuhl vergessen hatte.
Wie sich herausstellte, stammte das Geräusch von einem Vogel. Ein Blauhäher war gegen ein Küchenfenster geprallt und auf die Terrasse gestürzt, sein schmales Genick war offensichtlich gebrochen, die Flügel asymmetrisch um den Körper ausgebreitet.
»Vielleicht ist er nur benommen«, sagte meine Mutter.
Wir standen vor der Scheibe.
»Glaube ich nicht«, sagte ich.
Die Verlangsamung, das fanden wir bald heraus, hatte sich auf die Schwerkraft ausgewirkt. Hinterher übte die Erde ein bisschen mehr Macht aus. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bewegende Körper in Bewegung blieben, war gesunken. Wir alle und alles waren ein bisschen anfälliger für die Anziehungskraft des Bodens. Und möglicherweise war es diese Änderung der physikalischen Verhältnisse gewesen, die jenen Vogel genau gegen das flache Glas unserer Fensterscheibe gelenkt hatte.
»Vielleicht sollten wir ihn wegräumen«, sagte ich.
»Ich möchte nicht, dass du ihn anfasst. Papa wird sich darum kümmern.«
Und so ließen wir den Vogel einfach liegen. Die Katzen behielten wir die ganze Nacht drinnen.
Die Küche ließen wir auch, wie sie war. Wir hatten sie erst vor kurzem renoviert, und man roch noch die Farbe, aber dieser chemische Duft vermischte sich mit einem Hauch von saurer Milch. Meine Mutter goss sich ein frisches Glas ein: Zwei neue Eiswürfel knackten und hüpften unter einem Strom von funkelndem Scotch. Ich hatte sie noch nie so viel an einem einzigen Tag trinken sehen.
Sie ging wieder Richtung Veranda.
»Komm mit«, sagte sie. Aber ich hatte keine Lust mehr, bei ihr zu sein.
Stattdessen ging ich in mein Zimmer und legte mich eine Weile flach aufs Bett.
Zwanzig Minuten später rutschte die Sonne schließlich doch noch hinter den Hügel, endlich der Beweis dafür, dass die Erde sich, egal wie langsam, weiterhin drehte.
Der Wind drehte über Nacht und wurde stark, blies nun aus der Wüste statt vom Meer her. Er heulte und kreischte. Draußen schwankten und wogten die Eukalyptusbäume, und die Sterne glitzerten an einem wolkenlosen Himmel – es war ein leerer, gewitterloser Wind.
Irgendwann hörte ich das Knarren von Schranktüren in der Küche, das leise Quietschen von Scharnieren. Ich erkannte das Schlurfen der Hausschuhe meiner
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