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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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zupfen.
    »Weißt du, es ist ungesund, so dünn zu sein«, sagte meine Mutter, nachdem Sylvia zurück an ihre Gartenarbeit gegangen war. (Meine Mutter besaß einen ganzen Schrank voller Kleider, die ihr eine Größe zu klein waren und alle in Plastik verpackt auf den Tag warteten, an dem sie die fünf Kilo abgenommen hätte, über die sie seit Jahren jammerte.) »Man kann ja ihre Knochen sehen«, sagte meine Mutter. Und es stimmte: Man sah sie.
    »Schau mal«, sagte ich. »Die Straßenlaternen sind angegangen.«
    Sie wurden über eine Zeitschaltuhr gesteuert, die bei Abenddämmerung auslösen sollte. Doch die Sonne schien weiter.
    Ich stellte mir Menschen auf der anderen Seite der Erde vor, in China und in Indien, die sich jetzt gerade in die Dunkelheit kauerten und warteten, wie wir – aber auf das Morgengrauen.
    Noch mehr Minuten vergingen.
    »Er sollte uns wenigstens Bescheid geben, dass er sicher angekommen ist«, sagte meine Mutter. Sie wählte erneut, lauschte, legte das Telefon weg.
    Ich hatte meinen Vater ein Mal zur Arbeit begleitet. Es war nicht viel passiert, während ich dort war. Schwangere Frauen sahen fern und aßen im Bett Knabberzeug. Mein Vater stellte Fragen und überprüfte Krankenakten. Ehemänner liefen herum.
    »Hatte ich ihn nicht gebeten anzurufen?«, sagte sie.
    »Er hat wahrscheinlich einfach viel zu tun«, sagte ich.
    In einiger Entfernung sah ich, dass Tom und Carlotta, das ältere Paar, das am Ende der Straße wohnte, ebenfalls draußen saßen, er in einem verblassten Batik-T-Shirt und Jeans, sie in Birkenstocks und mit einem langen, grauen, geflochtenen Zopf über der Schulter. Allerdings waren sie um diese Uhrzeit immer dort draußen, die Liegestühle in die Einfahrt gestellt, Margaritas und Zigaretten in den Händen. Hinter ihnen stand das Garagentor offen, so dass Toms Modelleisenbahngleise freilagen wie Gedärme. Damals waren die meisten Häuser in unserer Straße schon umgebaut oder zumindest renoviert, waren frisch aufpoliert worden wie alte Zähne, aber Toms und Carlottas Haus blieb unverändert, und ich wusste, weil ich ihnen schon mal Pfadfinderkekse verkauft hatte, dass bei ihnen immer noch der originale dunkelrote Teppichboden lag.
    Jetzt winkte Tom mir mit einem Glas in der Hand zu. Ich kannte ihn nicht gut, aber er war immer freundlich zu mir. Ich winkte zurück.
    Es war Oktober, fühlte sich aber an wie Juli: Die Luft war Sommerluft, der Himmel ein Sommerhimmel, es war immer noch hell bis nach sieben Uhr.
    »Ich hoffe, die Telefone funktionieren«, sagte meine Mutter. »Aber das müssen sie doch, oder?«
    In der Zeit seit jenem Abend habe ich viele Angewohnheiten meiner Mutter angenommen, das beharrliche Kreisen um ein einziges Thema, ihr Unvermögen, mit Ungewissheit umzugehen; aber wie ihre breiten Hüften und die hohen Wangenknochen sollten diese Eigenschaften noch einige Jahre in mir schlummern. An dem Abend konnte ich damit nichts anfangen.
    »Beruhige dich einfach«, sagte ich. »Ja, Mama?«
    Endlich klingelte das Telefon doch noch. Meine Mutter hob hastig ab. Ich sah ihr an, dass sie von der Stimme am anderen Ende enttäuscht war. Sie reichte den Hörer an mich weiter.
    Es war nicht mein Vater. Es war Hanna.
    Ich stand auf, lief mit dem Telefon am Ohr aufs Gras und blinzelte in die Sonne.
    »Ich kann jetzt nicht richtig reden«, sagte Hanna. »Aber ich wollte dir sagen, dass wir wegfahren.«
    Im Hintergrund hallten die Stimmen von Hannas Schwestern. Ich stellte sie mir in dem Zimmer vor, das sie sich mit ihnen teilte, die gelb gestreiften Vorhänge, die ihre Mutter genäht hatte, die vielen Stofftiere auf ihrem Bett, die auf der Kommode verstreuten Haarspangen.
    »Wo fahrt ihr hin?«, fragte ich.
    »Utah«, antwortete Hannah.
    Sie klang ängstlich.
    »Wann kommt ihr zurück?«
    »Gar nicht«, sagte sie.
    Ich spürte einen Anfall von Panik. Wir hatten in diesem Jahr so viel Zeit miteinander verbracht, dass uns die Lehrer schon manchmal mit dem Namen der anderen ansprachen.
    Wie ich später erfahren sollte, versammelten sich nach dem Beginn der Verlangsamung tausende von Mormonen in Salt Lake City. Hanna hatte mir einmal erzählt, die Kirche habe eine bestimmte Quadratmeile in Utah als die exakte Position für die nächste Wiederkehr Jesu auf die Erde ermittelt. Dort unterhalte sie einen riesigen Getreidespeicher, um die Mormonen während der Endzeit zu ernähren. »Eigentlich darf ich dir das nicht erzählen, weil du nicht in unserer Kirche bist«, hatte sie gesagt.

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