Ein Jahr voller Wunder
schnellen Schritte meines Vaters schwang.
Hinterher zog er den Gartenschlauch auf die Terrasse und spritzte die Ameisen und das Blut weg, doch auf dem Fenster würde noch wochenlang ein Fettfleck sichtbar bleiben, wie eine Bremsspur nach einem Autounfall.
Schließlich ging er nach oben, um zu schlafen, und meine Mutter ging mit.
Ich saß lange allein im Wohnzimmer und sah fern, während meine Eltern hinter der geschlossenen Tür ihres Schlafzimmers miteinander murmelten. Ich hörte meine Mutter eine Frage stellen. Mein Vater erhob die Stimme: »Was soll das denn heißen?«, schimpfte er.
Ich stellte den Fernseher leiser und horchte angestrengt.
»Natürlich war ich in der Arbeit«, sagte er. »Wo zum Teufel soll ich denn sonst sein?«
Wir lebten unter einer neuen Schwerkraft, deren Veränderung zu schwach war, um sie bewusst wahrzunehmen, doch unsere Körper waren ihrer Gewalt bereits unterworfen. In den folgenden Wochen, als die Tage sich immer weiter ausdehnten, stellten Quarterbacks fest, dass die Bälle nicht mehr so flogen wie vorher, Baseballspieler konnten keine Homeruns mehr schlagen. Mir fiel es zunehmend schwer, einen Fußball über den Platz zu schießen. Piloten mussten sich das Fliegen neu beibringen. Jeder fallende Gegenstand fiel schneller zu Boden.
Heute kommt es mir vor, als hätte die Verlangsamung noch andere, zu Anfang weniger sichtbare, aber tiefere Veränderungen ausgelöst. Sie störte gewisse unauffälligere Flugbahnen: den Kurs von Freundschaften, zum Beispiel, die Pfade zur und fort von der Liebe. Aber wie kann ich behaupten, dass der Verlauf meiner Kindheit nicht schon lange vor der Verlangsamung festgelegt war? Vielleicht war meine Jugend nur eine ganz normale Jugend, der Schmerz ein wenig bemerkenswerter Schmerz. Zufälle gibt es sehr wohl: das Zusammentreffen von zwei oder mehr scheinbar miteinander verknüpften Ereignissen ohne Kausalbeziehung. Vielleicht hatte alles, was mir und meiner Familie passierte, überhaupt nichts mit der Verlangsamung zu tun. Möglich wäre das, denke ich. Aber ich bezweifle es. Ich bezweifle es stark.
5
M it jeder Stunde strömten mehr neue Minuten herein. Zwei Tage waren vergangen. Jetzt war es Montag. Es gab keine neuen Nachrichten.
Ich hatte gehofft, die Schule fiele aus – wie alle Kinder. Doch sie wurde nur verschoben. Ein hastig ausgearbeiteter Plan verlegte den Unterrichtsbeginn um neunzig Minuten nach hinten, das war ungefähr der Zeitraum, um den wir mittlerweile zurücklagen.
Wir waren von der Regierung gebeten worden, ganz normal weiterzumachen. Später stimmte das natürlich nicht mehr, aber vorerst standen unsere Politiker vor Mikrofonen, in dunklen Anzügen und roten Krawatten, Anstecker mit der amerikanischen Flagge an marineblauen Revers glänzend. Hauptsächlich sprachen sie über Wirtschaftliches: Gehen Sie zur Arbeit, geben Sie Geld aus, lassen Sie Ihre Ersparnisse auf der Bank.
»Die erzählen uns definitiv nicht alles«, sagte Trevor Watkins an jenem Montagmorgen an der Bushaltestelle. Mehr als die Hälfte der Kinder, die dort normalerweise warteten, waren zu Hause geblieben oder hatten mit ihren Familien die Stadt verlassen.
Ich vermisste Hanna wie einen amputierten Körperteil.
»Es ist genau wie bei der Area 51.« Trevor kaute auf den ausgefransten schwarzen Riemen seines Rucksacks. »Nie sagen sie der Öffentlichkeit die Wahrheit.«
Damals war unser Leben leicht. Wir waren Mädchen in Sandalen und Sommerkleidchen, Jungs in Surfshorts und T-Shirts. Wir wuchsen in einem Rentnertraum auf – 330 Sonnentage im Jahr – und deshalb feierten wir, wenn es mal regnete. Und wie schlechtes Wetter rief auch eine Katastrophe in uns allen beklommene Erregung und Elan hervor.
Von der anderen Seite des Platzes ertönte das Echo eines Skateboards, das auf dem Bordstein auftrifft. Ich wusste ohne hinzusehen, wer das war, aber ich wollte hinsehen: Seth Moreno – groß und still und immer allein – stieg jetzt sorgsam von seinem Skateboard auf die Erde, seine dunklen Haare fielen ihm dabei in die Augen. Ich hatte noch nicht viel mit Seth Moreno gesprochen, obwohl ich in Mathe hinter ihm saß. Im Laufe der Zeit hatte ich eine Methode, ihn zu beobachten, perfektioniert, die nicht aussah, als würde ich ihn beobachten.
»Verlasst euch drauf«, fuhr Trevor fort. Trevor war dünn und hatte keine Freunde, und sein riesiger grüner Rucksack war so schwer, dass er sich nach vorn beugen musste wie ein alter Mann, um das Gleichgewicht zu
Weitere Kostenlose Bücher