Ein Jahr voller Wunder
westwärts. Mir fiel ein, dass es auch die Zeit der Waldbrände war.
Ein Nachrichtenhubschrauber umschwirrte die Rauchwolke wie eine Fliege, und es war beruhigend, dass wenigstens ein Team damit beauftragt worden war, über dieses völlig normale Unglück zu berichten.
Nach dem Frühstück versuchte ich erneut, Hanna anzurufen, aber es tutete und tutete nur. Ich wusste, dass es für sie anders war: Hannas Leben mit ihren Schwestern war laut, das Haus ein Labyrinth von Stockbetten und gemeinsamen Badezimmern, wo die Waschmaschine ununterbrochen lief, um die Kleiderhaufen zu bewältigen, die sich jeden Abend im Wäschekorb türmten. Zwei Kombis waren nötig, um ihre Familie fortzubringen.
In unserem Haus konnte ich die Fußböden knarzen hören.
Als mein Vater am späten Nachmittag aus der Klinik kam, hatte sich der Wind gelegt und Nebel wälzte sich tief von der Küste heran und verdeckte den langsamen Lauf unserer Sonne über den Himmel.
»Ich hatte den ganzen Heimweg das Licht an«, sagte mein Vater. »Bei dem Nebel konnte ich keine zwei Meter weit sehen.«
Er sah erschöpft aus, aber ich war erleichtert, ihn in unserer Küche stehen zu sehen.
Er aß ein halbes Sandwich im Stehen. Danach räumte er das Geschirr vom Vortag weg und wischte die Arbeitsplatte mit einem Schwamm ab. Er goss die Orchideen meiner Mutter und wusch sich dann sehr lange am Spülbecken die Hände.
»Du solltest ein bisschen schlafen«, sagte meine Mutter. Sie hatte sich in denselben grauen Pulli gewickelt, den sie am Tag vorher getragen hatte.
»Ich bin zu aufgedreht«, sagte er.
»Dann leg dich wenigstens hin.«
Er sah aus dem Fenster und betrachtete die Terrasse. Er zeigte auf den toten Vogel.
»Wann ist das passiert?«
»Gestern Abend«, sagte ich.
Er nickte und zog die Schublade auf, in der er einen Vorrat an OP-Handschuhen für den Haushalt aufbewahrte. Wir gingen zusammen nach draußen.
»Was für ein Jammer.« Er hockte sich neben den Vogel.
Ein Ameisentrupp hatte den Kadaver entdeckt und marschierte jetzt vom Terrassenrand aus hin und her, kletterte tief in die Federn hinein und tauchte mit winzigen Stückchen Vogel auf dem Rücken wieder auf.
Mein Vater schlug eine weiße Mülltüte aus, bis sie auseinanderging und sich aufblähte.
»Vielleicht lag es daran, dass sich die Schwerkraft verändert hat«, sagte ich.
»Ach, ich weiß nicht. Die Vögel hatten schon immer Probleme mit unseren Fenstern. Sie können nicht besonders gut sehen.«
Er streifte sich Handschuhe über beide Hände. Eine Wolke von Gummistaub wehte von den Bündchen auf. Ich konnte den Latex bis zu mir riechen.
Er legte eine Hand um den Brustkorb des Vogels, die Flügel sackten ab wie Äste, als er ihn hochhob. Zwei schwarze Augen in der Größe von Pfefferkörnern verharrten regungslos in seinem Kopf. Ein paar verirrte Ameisen rannten hektisch über das Handgelenk meines Vaters.
»Tut mir leid, was bei dir in der Arbeit passiert ist«, sagte ich.
»Was meinst du damit?«, fragte mein Vater. Er ließ den Vogel aus der Hand in die Tüte gleiten. Es gab ein leises Klatschen, das in der Plastiktüte widerhallte. Mein Vater blies sich über das Handgelenk, um die Ameisen loszuwerden.
»Es ist doch eine Frau gestorben?«, fragte ich.
»Was?«
Er sah mich überrascht an. Da begriff ich, dass es ein Fehler war, das anzusprechen.
Erst schwieg mein Vater. Ich spürte meine Wangen heiß und rot werden. Er hob mit zwei Fingern wie mit einer Pinzette die letzte Feder von der Terrasse auf und steckte sie in die Tüte. Dann rieb er sich mit dem Rücken eines abgewinkelten Handgelenks über die Stirn.
»Nein, mein Schätzchen«, sagte er. »Niemand ist gestorben.«
Das war die erste Lüge, die ich je von meinem Vater gehört hatte – oder zumindest das erste Mal, dass ich wusste, er log. Aber es würde nicht die letzte bleiben. Und auch nicht die kühnste.
Auf der Terrasse, wo der Vogel gelegen hatte, sausten hunderte von Ameisen im Kreis herum und suchten nach ihrem verlorenen Festmahl.
Mein Vater zog die Schnur der Mülltüte zu und verknotete sie fest.
»Du und deine Mutter macht euch sowieso schon genug Sorgen«, sagte er. »Ich hab euch doch gesagt, dass über Nacht nichts passieren würde, und siehst du? Es ist auch nichts passiert.«
Wir brachten die Tüte zu den Mülltonnen auf der anderen Seite des Hauses. Die dunkle Silhouette des Vogels zeichnete sich durch das weiße Plastik ab, der Körper krümmte sich zusammen, als die Tüte im Takt der
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