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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Mutter, das Öffnen eines Tablettenröhrchens und dann ein sich langsam am Spülbecken füllendes Glas Wasser.
    Ich wünschte, mein Vater wäre zu Hause. Ich versuchte, ihn mir im Krankenhaus vorzustellen. Vielleicht wurden genau in diesem Augenblick Kinder in seine Hände geboren. Ich überlegte, was es wohl bedeuten würde, ausgerechnet in dieser Nacht auf die Welt zu kommen.
    Bald erloschen die Straßenlaternen und saugten den schwachen Schein aus meinem Zimmer. Das hätte die Morgendämmerung ankündigen sollen, doch die Siedlung blieb in Dunkelheit getaucht. Für mich war es eine neue Art von Dunkelheit, ein dichtes ländliches Schwarz, das man in Städten und Vorstädten noch nie gesehen hatte.
    Ich ging aus dem Zimmer und lief im Dunklen zum Schlafzimmer meiner Eltern. Durch den Spalt unter der Tür sah ich das blassblaue Licht des Fernsehers auf den Flurteppich sickern.
    »Kannst du auch nicht schlafen?«, fragte meine Mutter, als ich die Tür aufmachte. Sie sah in ihrem alten weißen Nachthemd zerknautscht und erschöpft aus. Kränze von feinen Fältchen breiteten sich fächerförmig von ihren Augenwinkeln aus.
    Ich stieg zu ihr ins Bett. »Was ist das für ein Wind?«, fragte ich.
    Wir sprachen leise, als schliefe jemand in der Nähe. Der Fernseher lief ohne Ton.
    »Das ist nur ein Santa Ana.« Sie rieb mir den Rücken. »Es ist doch jetzt die Jahreszeit dafür. Im Herbst ist das immer so, weißt du noch? Das zumindest ist normal.«
    »Wie spät ist es?«, fragte ich.
    »Viertel vor acht.«
    »Es müsste Morgen sein.«
    »Ist es auch«, sagte sie. Aber der Himmel blieb dunkel. Es war kein Anzeichen von Dämmerung auszumachen.
    Die Katzen in der Garage waren ruhelos. Ich hörte ein Kratzen an der Tür und Tonys anhaltendes, verunsichertes Maunzen. Er war vom grauen Star fast blind, aber sogar er merkte ganz offensichtlich, dass etwas nicht stimmte.
    »Hat Papa angerufen?«, fragte ich.
    Meine Mutter nickte. »Er übernimmt noch eine Schicht, weil nicht alle erschienen sind.«
    Lange Zeit blieben wir stumm sitzen, während der Wind um uns herumwehte. Das Licht des Fernsehers flackerte auf den weißen Wänden.
    »Wenn er nach Hause kommt, lass ihn sich ausruhen, ja?«, sagte meine Mutter. »Er hatte eine sehr schwere Nacht.«
    »Was ist passiert?«
    Sie biss sich auf die Lippe und hielt die Augen auf den Fernseher gerichtet.
    »Eine Frau ist gestorben.«
    »Gestorben?«
    Noch nie hatte ich gehört, dass so etwas unter der Aufsicht meines Vaters geschehen war. Bei der Entbindung zu sterben schien mir ein Tod der Pionierzeit, heutzutage so unmöglich wie Kinderlähmung oder die Pest, ausgerottet durch unsere ausgeklügelten Monitore und Maschinen, unsere sauberen Hände und starken Seifen, unsere Medikamente und Behandlungsmethoden und unser umfangreiches Wissen.
    »Und Papa glaubt, es wäre nicht passiert, wenn sie mit voller Belegschaft gearbeitet hätten. Sie waren einfach zu knapp besetzt.«
    »Was ist mit dem Kind?«, fragte ich.
    »Weiß ich nicht.« Sie hatte Tränen in den Augen.
    Aus unerfindlichem Grund fing ich genau in diesem Moment und nicht schon früher an, wirklich Angst zu haben. Ich drehte mich im Bett meiner Eltern um, und der erdige Duft des Rasierwassers meines Vaters stieg aus dem Laken hoch. Ich wollte ihn zu Hause haben.
    Im Fernsehen stand eine Reporterin irgendwo in einer Wüste, hinter ihr färbte sich der Himmel rosa. Sie verfolgten den Sonnenaufgang wie ein Unwetter – die Sonne hatte den östlichen Rand Nevadas erreicht, aber in Kalifornien war noch nichts zu erkennen.
    Später würde ich diese ersten Tage als den Zeitpunkt betrachten, an dem wir als Spezies feststellten, dass wir uns um die falschen Dinge gesorgt hatten: das Ozonloch, das Abschmelzen der Polkappen, Westnilfieber und Schweinegrippe und Killerbienen. Aber vermutlich ist das, wovor man Angst hat, nie das, was letztendlich eintritt. Die echten Katastrophen sind immer anders – ungeahnt, unvorhergesehen, unbekannt.

4
    E ndlich klang die Nacht ab, wie ein Fieber. Sonntagmorgen: Der Himmel leuchtete in einem zarten Blau.
    Unser Garten war vom Sturm mit Kiefernnadeln übersät. Zwei eingetopfte Ringelblumen waren umgekippt, die Erde rieselte aus den Kübeln. Der Sonnenschirm und die Gartenstühle lagen über die Terrasse verstreut. Unsere Eukalyptusbäume standen schief und windzerzaust. Der tote Blauhäher lag unverändert da.
    In der Ferne stieg eine Rauchfahne vom Horizont auf und schwebte mit dem Wind rasch

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