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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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halten. »Die Regierung weiß um einiges mehr, als sie sagt.«
    »Halt die Klappe«, sagte Daryl. Daryl war der Neue, der Schlimme, der Junge, der jeden Tag während der vierten Stunde zur Schulkrankenschwester ging, um eine Dosis Ritalin zu schlucken. Er war der Junge, den wir alle zu meiden versuchten. »Niemand hört dir zu, Trevor.«
    Die Bushaltestelle war das harte Pflaster, auf dem unsere Schultage begannen, wo Gemeinheiten ausgeteilt und Geheimnisse verraten oder verbreitet wurden. Wir standen, wo wir immer standen, auf demselben Flecken Erde neben demselben leeren Grundstück, die Morgensonne stand ungefähr im selben Winkel. Unsere Uhren waren nutzlos, aber das Licht fühlte sich richtig an.
    »Im Ernst, Leute«, sagte Trevor. »Das ist der Weltuntergang.«
    »Wenn der Bus nicht in zwei Minuten auftaucht«, sagte Daryl, »bin ich weg.«
    Daryl lehnte lässig an dem Maschendrahtzaun, der ein leeres Grundstück umgab. Jahre vorher war das Haus, das einmal dort gestanden hatte, zusammen mit einem Teil des Kalksteinhangs in den Canyon gerutscht. Unten konnte man immer noch Reste davon finden, Holzsplitter im Gebüsch, Fliesenscherben in der Erde. Aber sonst war nicht viel übrig. Die rissige Auffahrt führte nirgendwohin. Unkraut wuchs, wo einst der Rasen gewesen war. Gelbe Schilder warnten vor der Brüchigkeit des Steilhangs.
    »Ich sag euch, wie es ablaufen wird«, meinte Trevor. »Zuerst sterben die Pflanzen. Und dann sterben alle Tiere. Und dann die Menschen.«
    Aber in diesem Moment waren meine Ängste unmittelbarer: Ohne Hanna fühlte ich mich dort am Bordstein unbehaglich. Schon an normalen Tagen war die Bushaltestelle ohne Freundin kein guter Ort. Hier herrschten die Raufbolde. Kein Aufpasser passte auf.
    Ich beschloss, mich neben Michaela zu stellen, weil wir in der Grundschule befreundet gewesen waren, aber diese Bande waren dünn geworden.
    »Hallo Julia«, sagte sie, als sie mich sah. »Du bist doch klug, glaubst du, dieses Erddings könnte mir irgendwie die Haare versauen?« Sie band ihren Pferdeschwanz neu. Er war dick und lockig und rot. »Weil die heute echt verrückt spielen.«
    Sie sah aus, als wollte sie zum Strand, in Minirock und knappem T-Shirt. Pailletten-Flipflops klemmten an ihren Füßen. Meine Mutter hätte mich niemals in der Schule Flipflops tragen lassen.
    »Weiß ich nicht.« Ich bedauerte mein praktisches Outfit, weiße Stoffturnschuhe mit Doppelschleife zu schlichter Jeans. »Vielleicht.«
    In diesen Tagen glänzte fortwährend Lipgloss auf Michaelas Lippen. Ihre Hüften wiegten sich fortwährend. Bei jedem Fußballtraining floss Wimperntusche über ihre Wangen, und sie erzählte von ganzen Scharen von Jungs – es war schwer, den Überblick über ihre ganzen Jasons und Brians und Brads zu behalten. Wie konnte ich ihr gegenüber meine eigene bescheidene Sehnsucht eingestehen? Wie konnte ich ihr erklären, dass ich seit Monaten hoffte, mit nur einem Jungen zu sprechen, der genau in diesem Moment mit uns an der Bushaltestelle wartete und sein Skateboard auf der anderen Seite des Platzes langsam hin und her rollte? Seth Moreno: wie ein Blinklicht in meinem Kopf.
    »Jetzt mal ohne Witz«, sagte Michaela und hielt die struppige Spitze ihres Pferdeschwanzes hoch. »Sieh dir das Gekräusel an.«
    Ein fruchtiger Shampooduft wehte aus ihrem Haar, wenn sie sich bewegte.
    »Aua.« Michaela schnellte herum, als wäre sie von einer Biene gestochen worden. Da stand Daryl und ließ ihren BH-Träger schnalzen. »Lass das, Daryl.«
    Der BH stützte nicht viel. Michaela war so flach wie ich. Aber sie trug ihn trotzdem, ein gewagtes Symbol der Dinge, die da kommen würden. Diese beiden, durch die weiße Baumwolle ihres ärmellosen Tops sichtbaren leeren Körbchen enthielten zumindest die Möglichkeit von Brüsten, wenn schon keine echten, und ich vermute, allein die Erwartung, allein die Vorstellung, der bloße Traum von einem weiblichen Körper reichte aus, um die Jungen anzulocken.
    »Ich meine es ernst«, sagte sie, als Daryl noch einmal am Träger zog. Ich hörte das schnelle Aufklatschen des Gummibands auf ihrer Haut. »Du nervst mich.«
    In einigem Abstand beobachtete ich Seth Moreno, der einen Stein über den Maschendrahtzaun in den Canyon warf. Ich hatte das Gefühl, Seth interessierte sich für wichtige Dinge. Seine Traurigkeit war immer offensichtlich. Sie lag im wütenden Schwung seines Handgelenks, als er den Stein losließ. Sie lag in der müden Drehung seines Kopfes. Sie lag in der

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