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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Art, wie er in den Himmel blinzelte, aber trotzdem den Blick nicht abwandte.
    Seth kannte sich mit Katastrophen schon aus: Seine Mutter war krank, und sie war bereits eine ganze Zeitlang krank. Ich hatte sie ein oder zwei Mal mit ihm in der Drogerie gesehen, ein rotes Tuch um den Kopf gewickelt, wo früher ihre Haare gewesen waren, die dünnen Beine in ein Paar klobige Gesundheitsschuhe gesteckt. Brustkrebs: Sie litt seit Jahren darunter, schon immer, schien es, aber ich hatte gehört, dass sie nun wirklich im Sterben lag.
    Plötzlich spürte ich ein festes Kneifen durch den Rücken meines T-Shirts. Ich drehte mich um. Daryl stand hinter mir. Er lachte ein gemeines Lachen.
    »Igitt!«, sagte er und wandte sich den anderen Kindern zu. »Julia hat nicht mal einen BH an!«
    Meine Wangen wurden heiß.
    Hanna hätte gewusst, was zu tun war. Sie war die Anführerin von uns beiden, die Sprecherin, der Boss. Sie konnte gemein sein, wenn es nötig war. Vielleicht war sie durch ihre Schwestern geschult. Sie hätte in dem Augenblick eingegriffen und genau das Richtige zu Daryl gesagt.
    Doch an jenem Tag war ich auf mich gestellt, und ich war nicht daran gewöhnt, gehänselt zu werden.
    Ein paar Monate vorher war ich mit meiner Mutter durch die Unterwäscheabteilung eines Kaufhauses gelaufen. Eine Verkäuferin hatte gefragt, ob wir uns Mädchen-BHs ansehen möchten. Meine Mutter sah die Frau an, als hätte sie von Sex geredet. Ich starrte nur auf den Kaufhausfußboden. »Oh«, sagte meine Mutter. »Wohl kaum.«
    Jetzt betrachtete Daryl mich. Er hatte extrem weiße Haut und eine sehr spitze, sehr sommersprossige Nase. Ich spürte die Blicke der anderen Kinder auf meinem Gesicht, sie wurden von Grausamkeit angezogen wie Fliegen von frischem Fleisch.
    Ich sehnte das Geräusch des rettenden Schulbusses herbei, hörte aber nichts – nur das schwache Murmeln von Insekten, die emsig zwischen den Blumen im Canyon unterwegs waren, und das dumpfe Scheppern von Seths Skateboard, das wieder und wieder gegen den Bordstein stieß. Die Leitungen summten über uns wie immer, das Fließen des Stroms war von der Verlangsamung nicht unterbrochen worden. Später sollte ich erfahren, dass unsere ganzen Maschinen wahrscheinlich noch eine Weile weiterlaufen würden, selbst wenn alle Menschen fort wären.
    Eine Lüge bildete sich in meinem Mund. Sie kullerte heraus wie ein abgebrochener Zahn. »Hab ich doch «, sagte ich.
    Ein silberfarbener Minivan bog um die Ecke, fuhr weiter und war weg.
    »Ach ja?«, sagte Daryl. »Dann zeig mal.«
    Alle außer Seth beobachteten uns jetzt. Die älteren Jungs, die Achtklässler, hatten ihre Schubswettkämpfe eingestellt, um zu verfolgen, was passieren würde. Sogar Trevor hatte aufgehört zu reden. Diane sah auch zu, während sie mit zwei Fingern das silberne Kreuz rieb, das immer um ihren pummeligen Hals hing. Die Gilbert-Zwillinge starrten stumm wie immer. Ich nahm auch Seth wahr, den Einzigen, der sich abseits hielt. Ich hoffte, er hätte nicht bemerkt, was geschah. Er stand jetzt mit dem Rücken zu uns auf seinem Skateboard, die Räder knirschten auf der Erde, während er auf der anderen Seite des Platzes langsam hin und her rollte.
    »Wenn du einen BH anhast«, sagte Daryl und beugte sich zu mir. »Dann beweis es.«
    Ich nestelte an meiner Kette. An zarten Goldgliedern hing ein winziges Nugget, ausgegraben sechzig Jahre früher von den Händen meines Großvaters, als er in den Minen Alaskas arbeitete. Es war das einzige seiner Erinnerungsstücke, das mir etwas bedeutete.
    »Lass sie in Ruhe«, sagte Michaela endlich, aber ihre Stimme war zu dünn und kam zu spät.
    Was ich bis dahin über dieses Leben begriffen hatte, war, dass es die Drangsalierer und die Drangsalierten gab, die Jäger und die Gejagten, die Starken und die Stärkeren und die Schwachen, und bisher hatte ich noch nie zu irgendeiner Gruppe gezählt – ich gehörte zum Rest, ein stilles Mädchen mit durchschnittlichem Gesicht, einfach nur eine von vielen unter den Harmlosen und Unbedrängten. Aber plötzlich schien sich dieses Gleichgewicht verschoben zu haben. Ein böser Gedanke schwirrte durch meinen Kopf: Ich hatte in dieser Position nichts verloren; es hätte eines der hässlicheren Mädchen treffen müssen, Diane oder Teresa oder Jill. Oder Rachel. Wo war Rachel? Sie war die Streberhafteste von uns. Aber auch sie war von ihrer Mutter zu Hause behalten worden, um sich bereitzumachen und zu beten – sie waren Zeugen Jehovas und überzeugt,

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