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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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dies wäre das Ende aller Tage.
    Da so viele Kinder an der Bushaltestelle fehlten, verschoben sich sämtliche Hierarchien.
    Ein weiteres Auto glitt um die Ecke. Dieses Mal war es mein Vater in dem grünen Kombi, auf dem Weg zur Arbeit. Er winkte mir im Vorbeifahren zu. Ich wollte nicht, dass er mich so sah, obwohl er in dieser unscheinbaren Szene kein Anzeichen von Problemen hätte erkennen können.
    »Entweder zeigst du ihn«, sagte Daryl. »Oder ich mach das für dich.«
    Wie seitdem umfangreich dokumentiert wurde, schoss in den Tagen und Wochen nach dem Beginn der Verlangsamung die Anzahl von Morden und anderen Gewaltverbrechen in die Höhe. Es lag etwas in der Atmosphäre. Es war, als hätte die Verlangsamung auch unsere Urteilskraft verlangsamt, unsere Hemmungen beseitigt. Aber ich hatte immer das Gefühl, sie hätte eigentlich den gegenteiligen Effekt haben müssen. Eines stimmt auf jeden Fall: Nach der Verlangsamung erforderte jede Handlung etwas mehr Kraft als früher. Die physikalischen Gegebenheiten hatten sich geändert. Nehmen wir zum Beispiel den leicht erhöhten Widerstand einer Hand auf einem Messer oder eines Fingers an einem Abzug. Von da an hatten wir alle etwas mehr Zeit, zu entscheiden, was wir nicht tun sollten. Und wer weiß, wie schnell Bedenken sich fortbewegen können? Wer hat je die exakte Geschwindigkeit von Reue gemessen? Doch die neue Schwerkraft reichte nicht aus, um den Sog gewisser anderer, mächtigerer, weniger bekannter Kräfte zu überwinden – kein Gesetz der Physik kann Begierde erklären.
    Ich hörte den Bus um die Ecke auf uns zurumpeln, die Bremsen quietschten, der Motor knatterte. In dem Moment packte Daryl den vorderen Saum meines T-Shirts und zog ihn nach oben. Ich drehte mich von ihm weg, doch ich war zu langsam. In der Bewegung bemerkte ich Seth mit schlenkernden langen Armen in unsere Richtung laufen, gerade rechtzeitig, um meine nackte Brust zu sehen.
    Das ist meine nächste Erinnerung: das Weiß des T-Shirts über meinem Gesicht, der Schwall feuchter Luft auf meinem bloßen Brustbein und meinen bloßen Rippen, auf der gesamten glatten Fläche meiner Brust. Das aufgeregte Kreischen der anderen Kinder. Daryl hielt mich einige lange Sekunden so fest, während ich mich wand und schlängelte; beide waren wir in einem perversen Tanz gefangen. Ich spürte die kalte Luft auf der Haut, das Einschneiden meiner Kette im Nacken.
    Endlich ließ Daryl mein T-Shirt los.
    »Lügnerin«, sagte er. »Ich wusste, dass du keinen BH anhast.«
    Der Bus hielt am Bordstein und brummte dort im Leerlauf. Der süßliche Geruch von Diesel erfüllte die Luft. Ich hatte weiche Knie und blinzelte Tränen zurück.
    »Mein Gott, Daryl«, sagte Seth und schubste ihn an der Schulter. »Was soll der Scheiß?«
    Monate später würde Michaelas Mutter ein Sterndiagramm vor uns ausbreiten und mir erklären, dass die Verlangsamung die Tierkreiszeichen jedes Menschen verschoben habe. Schicksale hatten sich verändert. Persönlichkeiten sich umgeformt. Die Pechvögel hatten nun Glück. Die Glückspilze weniger. Unser Leben – so lange schon in den Sternen geschrieben stehend – war an einem Tag umgeschrieben worden.
    »Keine Angst«, flüsterte Michaela, als wir die Stufen hinauf in den Bus stiegen. »Niemand hat was gesehen.«
    Aber ich wusste, dass man so etwas sagte, wenn genau das Gegenteil der Fall war: Jeder hatte alles gesehen.
    Seth kam als Letzter in den Bus. Er lächelte ein schwaches Lächeln, als er an mir vorbeiging, und steuerte wie üblich auf die hinteren Reihen zu. Was ich in seinem Gesicht sah, war beunruhigender als das, was ich in Daryls gelesen hatte. In Seths dunklen Augen und seinen dicken, zusammengekniffenen Lippen entdeckte ich etwas anderes, etwas Schlimmeres: Ich sah Mitleid.
    Ich spielte mit dem Gedanken, auf der Stelle aus dem Bus zu rennen, aber es war zu spät. Die Türen schlossen sich.
    »Ich wette, sie schicken schon den Präsidenten und die schlausten Wissenschaftler zur Weltraumstation, damit sie in Sicherheit sind«, sagte Trevor auf dem vordersten Platz, als wäre sein Theorienstrom nie unterbrochen worden. Ausnahmsweise war ich froh, dass er redete.
    Der Bus ruckelte vom Bürgersteig weg. Der Fahrer, ein dicker Mann mit einem breiten schwarzen Gürtel, wirkte verstört und fahrig. Andauernd schielte er durch die Windschutzscheibe zur Sonne hinauf.
    Ich tastete nach meiner Kette, und da erst bemerkte ich, dass sie weg war, das winzige Nugget meines Großvaters lag

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