Ein Jahr voller Wunder
nsere Schule kehrte zu ihrer üblichen Anfangszeit von neun Uhr zurück. Das hieß, wir standen im Dunklen an der Bushaltestelle, die Gesichter von einer Straßenlaterne gelb beleuchtet, die, wie alle Straßenlaternen in unserer Gegend, absichtlich mattes Licht verströmte – Helligkeit verdarb dem riesigen, dreißig Jahre alten Universitätsteleskop, das auf einem Hügel im Osten stand, die Sicht. Lichtverschmutzung nannte man das. Aber was beobachteten die Astronomen überhaupt noch, jetzt da das wirklich Spannende hier unten passierte?
Meine Mutter wartete im Auto am Straßenrand, bis der Bus kam, sie war überzeugt, dass Gefahr, wie Kartoffeln, in der Dunkelheit gedeiht. Aber ich empfand die Bushaltestelle als genauso bedrohlich wie bei Tageslicht und nicht schlimmer.
Ich hatte mich von Daryl ferngehalten, aber er ignorierte mich und tat so, als hätte er gar nichts gemacht. Irgendwo auf dieser schwarzen Erde, dachte ich, lag wahrscheinlich noch meine Kette mit dem Nugget. Seth blieb weiterhin für sich, wie ein einsamer Überlebender, und blies sich auf eine attraktive, selbstgenügsame Art in die Hände, einen Fuß auf dem Skateboard, den anderen auf dem Bürgersteig.
Hannas Haus war gerade eben in der Ferne am Ende der Straße erkennbar, und ich glaubte an jenem Morgen, ein kleines Licht neben der Tür brennen zu sehen. Hoffnung flackerte in mir auf, sie wäre nach Hause gekommen. Aber es war nur das Verandalicht, das vermutlich bei ihrer Flucht aus Versehen angelassen worden war, da man es bei Tag nicht bemerkt hatte.
An diesem dunklen Morgen waren wir alle stiller als sonst. Wir waren müde und schlapp und benommen. Selbst Michaela wirkte gedämpft, weil sie zu spät aufgestanden war, um sich die Haare zu waschen oder die Augen zu schminken. Niemand ärgerte jemanden. Niemand sagte etwas. Wir standen einfach nur zusammen in der Dunkelheit, die Kapuzen unserer Sweatshirts auf den Köpfen, die Finger in die Ärmel gekrümmt.
Es war kalt, vielleicht der kälteste Abschnitt der Nacht, aber meine Uhr zeigte 8:40. Die dünne Sichel des Mondes leuchtete tief am Horizont. Die Sterne waren von funkelnder Klarheit.
Es ist schwer zu glauben, dass es in diesem Land eine Zeit gab – die nicht einmal so lange zurückliegt –, als jedes Jahr dicke Kalender gedruckt wurden, die neben anderen Fakten die exakte Uhrenzeit jedes einzelnen Sonnenaufgangs und jedes einzelnen Sonnenuntergangs ein Jahr im Voraus aufführten. Ich glaube, wir verloren mit diesem klaren Rhythmus noch etwas anderes, ein gemeinsames Grundvertrauen, dass gewisse Dinge unveränderlich waren.
Überall um uns herum war der Lärm der Grillen an diesem Morgen verblüffend, das Knarren und Pfeifen so vieler neuer Leiber in der Dunkelheit – sie hatten sich seit der Verlangsamung vermehrt. Das galt für alle Insekten. Da nur so wenige Vögel übrig waren, entwickelte sich Kleineres bestens. Mehr und mehr Spinnen krabbelten auch über unsere Zimmerdecken. Käfer krochen aus Badezimmerabflüssen. Würmer glitten über den Beton unserer Terrassen. Ein Fußballtraining wurde abgebrochen, als sich eine Million Marienkäfer gleichzeitig auf dem Platz niederließen. Selbst Schönheit wird im Überfluss unheimlich.
Als der Bus vor der Schule hielt, entdeckten wir, dass Arbeiter Flutlichter überall auf dem Gelände installierten. Unter den Scheinwerfern wirkten die verwaschenen grünen Wände, die Gerüchten zufolge mit überschüssiger Farbe des Marinestützpunkts etwas weiter nördlich an der Küste gestrichen worden waren, wie Gefängnismauern. Das ist eine Lektion, die ich durch die Uhrenzeit gelernt habe: So vieles, was bei Tageslicht harmlos wirkt, wird bei Dunkelheit eindrucksvoll. Was sonst noch, musste man sich fragen, war nur eine optische Täuschung?
Es war Mittagszeit, als die Sonne endlich auftauchte, die Finsternis sich wie ein Nebel lichtete. Sonnenaufgang: 12:34. Wir waren alle draußen, als es passierte. Das hier war Kalifornien – wir aßen zu allen Jahreszeiten draußen. Während der östliche Himmel ein blasses und verheißungsvolles Rosa annahm, flirtete Michaela weiter mit den Jungs um uns herum, und ich vollführte das entgegengesetzte Manöver: mich still verhalten und möglichst nicht auffallen.
Langsam begann der Fußballplatz in der Ferne zu glitzern. Ich blinzelte in die aufgehende Sonne. Und da bemerkte ich am anderen Ende des Schulhofs die Silhouette eines Mädchens, das Hanna auffallend ähnlich sah, nur dass es nicht Hanna
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