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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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andere ans Teleskop hielt. Er bedeutete mir, auch einen Blick darauf zu werfen. »Du siehst ihn noch besser, wenn es dunkel wird.«
    Der Mars kam neuerdings in den Nachrichten vor, seit Entwürfe für ein sogenanntes Pionierprojekt im Internet aufgetaucht waren. Es war ein von einer Gruppe geheimnistuerischer Milliardäre privat finanzierter Plan für eine menschliche Siedlung auf dem Mars, komplett mit temperierten Biosphären und einer selbstreinigenden Wasserversorgung. Es handelte sich um einen Evakuierungsplan von der Erde. Falls nötig sollte ein Grüppchen Menschen dort oben überleben können, die ganze Kolonie wie eine Zeitkapsel, ein lebendiges Souvenir des Lebens, wie wir es einmal auf der Erde gekannt hatten.
    Durch das Teleskop sah der Mars für mich eher unspektakulär aus, ein dicker roter, an den Rändern verschwommener Punkt.
    »Manche der Sterne, die du dort oben entdecken wirst, existieren gar nicht mehr«, sagte mein Vater, während er behutsam die Knöpfe des Teleskops mit den Daumen hin und her drehte. Die Rädchen quietschten leise. »Manche der Sterne, die du sehen wirst, sind schon seit tausenden von Jahren tot.«
    »Wollt ihr zwei den ganzen Abend hier oben bleiben?«, fragte meine Mutter.
    Mein Vater wischte die Linse mit einem schwarzen Filzstreifen ab, der in der Kiste gelegen hatte.
    »Mit diesem Teleskop siehst du nicht die Sterne, wie sie heute sind, sondern wie sie vor tausenden von Jahren waren«, fuhr er fort. »So weit weg sind sie nämlich, selbst ihr Licht braucht Jahrhunderte, um uns zu erreichen.«
    »Wenn wir heute Abend noch mal essen wollen«, seufzte meine Mutter, immer noch hinter uns, »sollten wir langsam anfangen.«
    Mein Vater antwortete nicht, aber ich war bemüht, sie zu beschwichtigen. »Wir sind gleich fertig«, sagte ich.
    Mir gefiel die Vorstellung, dass die Vergangenheit erhalten werden könnte, wie ein Fossil in den Sternen. Ich wollte glauben, dass irgendwo am anderen Ende der Zeit, hundert Lichtjahre von hier, jemand anderes, ein fernes zukünftiges Wesen vielleicht, auf das bewahrte Bild von meinem Vater und mir in ebendiesem Moment in meinem Zimmer zurückblickte.
    »Könnte das nicht sein?«, fragte ich meinen Vater. »In hundert Lichtjahren?«
    »Schon möglich«, sagte er.
    Aber er schien nicht zuzuhören.
    In jenem Jahr würde ich viele Stunden mit dem Beobachten der Sterne verbringen, aber ich benutzte mein Teleskop auch, um weniger fernen Körpern nachzuspionieren. Bald merkte ich, dass ich damit in die anderen Häuser der Straße schauen konnte. Ich konnte die Kaplans sehen, alle sechs, wenn sie beim Abendessen saßen. Ich konnte Carlotta am Ende unserer Sackgasse sehen, wenn sie auf ihrer Veranda Tee trank und ihr langer geflochtener Zopf herunterhing wie Makramee, jede Strähne durch die Linse meines Teleskops erkennbar, und dort hinter ihr war Tom und kippte einen Eimer Schmutzwasser auf den Komposthaufen.
    Die beste Sicht hatte ich auf Sylvias Haus. Es stand unserem gegenüber wie ein Spiegelbild, und ich konnte genau in ihr Wohnzimmer sehen – die Tasten ihres Klaviers, die Holzdielen ihres Bodens, sogar die Zeitungsseiten, die immer noch in dem jetzt leeren Vogelkäfig lagen.
    In jener Nacht schliefen wir bei Sonnenlicht, oder wir schliefen gar nicht. Wochenlang war ich vor Einbruch der Dunkelheit ins Bett gegangen – diese ersten Tage waren endlos, die Abende unaufhörlich; meistens schlief ich ein, ehe die Sterne am Himmel auftauchten. Aber diese Nacht war anders, die Abweichung größer als je zuvor. Es war die erste der weißen Nächte. Später würden wir lernen, uns abzuschirmen, uns kleine Fleckchen Dunkelheit inmitten des Lichts zu schaffen, aber diese erste Nacht nach Uhrenzeit war strahlend, als hätte die Sonne noch nie so hell oder klar geschienen.
    An meiner Zimmerdecke klebten Leuchtsticker, die ich erst vor kurzem abzureißen versucht hatte. Meine Mutter hatte mich davon abgehalten – »In der Decke ist Asbest, lass sie dran.« In dieser Nacht aber waren meine Sterne ohnehin unsichtbar, genau wie die echten, alle verblasst neben unserem liebsten Stern.
    »Probier zu schlafen«, sagte mein Vater. »Es wird schwer, im Dunklen aufzustehen.« Er setzte sich einen Moment ans Fußende meines Bettes und blickte aus dem Fenster in den grellblauen Himmel, ehe er die Jalousien zuzog. »Das sind bemerkenswerte Zeiten«, sagte er. »Wir leben in bemerkenswerten Zeiten.«
    Die Sonne ging schließlich irgendwann nach zwei Uhr unter.

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