Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
Vom Netzwerk:
aber sie wurden weitestgehend als Extremisten abgetan – als könnte etwas so Extremes unmöglich zutreffen.
    Doch bunte Weihnachtslichter blinkten wie gewöhnlich auf den Dächern unserer Nachbarschaft, und Mr Valencia baute dieselbe lebensgroße animatronische Krippe in seinem Vorgarten auf wie jedes Jahr um diese Zeit. Wälder von Weihnachtsbäumen sprossen auf freien Flächen und Supermarktparkplätzen. All die üblichen Lieder plätscherten durch die Regalreihen von Drogerien und Kaufhäusern, begleitet von Sorgen über die Entwicklung des Weihnachtsgeschäfts.
    Meine Mutter und ich backten einen ganzen Nachmittag lang Weihnachtsplätzchen.
    »Es tut gut, etwas Normales zu machen«, sagte sie, während sie den Teig mit einem Nudelholz ausrollte. Eine dunkle Strähne fiel ihr immer wieder übers Ohr ins Gesicht. Ich war froh, dass ihre Haare wieder den gewohnten Ton hatten. Sie hatte endlich das Grau überfärbt.
    Die Weihnachtszeit hatte meine Mutter fröhlich gemacht. Allerdings hatte nach meinem Empfinden ihr Eifer bei der Wahl der idealen Edeltanne, dem Aufhängen des Lamettas und dem Verpacken der Geschenke, dem täglichen Öffnen des Adventskalenders in jenem Jahr etwas Exzessives. In ihrer heiteren Stimmung schwang unterschwellig eine Angst mit, als vollzögen wir jedes unserer jährlichen Rituale zum allerletzten Mal. Ich merkte es an ihrem ständigen Glattstreichen des Weihnachtstischläufers, am Kleben einer Weihnachtsmann-Keksdose aus Porzellan, die jahrelang kaputt im Schrank gelegen hatte. Es zeigte sich in der Art, wie sie sich tief auf das Linoleum des Supermarkts kauerte, um das unterste Regal nach den Silberperlen abzusuchen, mit denen wir jedes Jahr unsere Plätzchen verzierten, die der Supermarkt aber nicht mehr führte.
    »Dinge verändern sich«, sagte sie. »Aber nicht alles muss sich verändern.«
    Als das letzte Blech mit Plätzchen aus dem Ofen kam, füllten wir eine ganze Dose für meinen Großvater und teilten dann den Rest für Lehrer und Freunde auf.
    »Bringen wir doch Sylvia auch welche«, schlug ich vor. Ich lehnte an der Arbeitsplatte, ein buttriger Löffel Teig zerging in meinem Mund. Die letzten Sterne kühlten auf einem Gitter aus.
    »Lieber nicht«, sagte meine Mutter. Sie wickelte jede Portion Plätzchen in grünes und rotes Zellophan, ihre Finger bewegten sich behutsam, um den Zuckerguss nicht zu beschädigen.
    »Warum nicht?«, fragte ich.
    »Das ist keine gute Idee.«
    Beide Katzen tauchten plötzlich an der Küchentür auf und kratzten wie wild an der Scheibe. Sie hatten eine Schwäche für Süßes, und sie durften erst hereinkommen, wenn die Rührschüsseln abgespült, die Ausstechförmchen gereinigt, der Spritzbeutel ausgeleert und weggeräumt worden war.
    »Aber warum nicht?«, fragte ich noch einmal.
    »Die Plätzchen reichen nicht, um jedem, den wir flüchtig kennen, welche zu schenken.«
    Meine Mutter hatte mir nie verboten, mit Sylvia oder den anderen Echtzeitern zu sprechen. Es wurde nie explizit ausgesprochen. Aber das war auch nicht nötig. Ich verstand sehr gut, dass ich Abstand zu ihnen halten sollte, besonders zu Sylvia. Und meistens tat ich auch genau das.
    Doch Sylvia tat mir leid, und deshalb holte ich später an diesem Tag, als der Ofen kalt und die Küche aufgeräumt war und meine Mutter auf der Couch schlief, eine Handvoll Kekse aus der Speisekammer, band eine rote Schleife darum und verließ das Haus.
    Ich wartete lange vor Sylvias Tür, bis sich endlich der Knauf drehte und eine schläfrige Sylvia in einem lila Seidenmorgenmantel erschien. Sie sah ballerinadünn aus, wie sie so im Türrahmen lehnte, die Haare zu einem lockeren roten Knoten geschlungen. Für mich war schon fast Abendessenszeit, aber die Sonne stand hoch am Himmel – später Vormittag des natürlichen Tages.
    »Fröhliche Weihnachten«, sagte ich und gab ihr die Plätzchen.
    »Das ist sehr nett, Julia«, sagte sie mit einer Stimme, an die ich nicht gewöhnt war, einem schweren, tiefen Kratzen. »Entschuldige.« Sie räusperte sich ausgiebig. »Tut mir leid. Ich hab heute noch mit niemandem gesprochen.«
    Für mich war das ein weiterer Beweis dafür, wie allein sie war, als riskierte ein Mensch, wenn er zu lange zurückgezogen lebte, nicht nur das Bedürfnis, zu sprechen, sondern auch die Fähigkeit dazu.
    Mir kam es vor, als wären sogar ihre Bewegungen, wie ihre Tage, langsam geworden, das gemächliche Heben einer Hand, um eine Haarsträhne zurückzustreichen, oder das bedächtige

Weitere Kostenlose Bücher