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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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behauptete er das –, hatte aber vor, meine Mutter später am Abend auf der Party zu treffen. Wir fuhren einen silbernen Kombi, obwohl die Polizei ihn später als blau beschreiben würde.
    »Welchen Vorsatz hast du fürs neue Jahr?«, fragte meine Mutter mich, als wir die Rennbahn passierten. Wir hatten in der Küche angestoßen, ehe wir losfuhren: sprudelnder Apfelsaft in meinem Glas, Sekt in ihrem.
    »Niemand hält seine Neujahrsvorsätze ein«, sagte ich.
    Draußen sauste die Lagune vorbei.
    »Du klingst wie dein Vater.«
    Sie war gesprächig mit ihren geröteten Wangen und dem schwarzen schulterfreien Kleid. Seit der Verlangsamung hatte sie abgenommen, und jetzt hatte sie sich in eines der Kleider gequetscht, die jahrelang ungetragen im Schrank hingen.
    »Warum bist du so brummig?«, fragte sie.
    Ich war meinem Vater die ganze Woche aus dem Weg gegangen. Es fühlte sich riskant an, von ihm zu reden, als könnte schon allein die Sprödigkeit der beiden Ps in Papa meiner Mutter irgendwie meine Wut verraten oder preisgeben, was ich gesehen hatte.
    »Einer meiner guten Vorsätze ist, mir weniger Sorgen zu machen«, sagte sie. Sie betrachtete sich kurz im Rückspiegel und strich eine Augenbraue mit der Fingerspitze glatt. »Und mehr im Augenblick zu leben.«
    Wir kamen an einem großen weißen Haus auf einem Hügel vorbei, wo gerade die Partygäste eines anderen Gastgebers aus sauberen, teuren Autos stiegen. Zwei Männer in Smokings spazierten durch die Haustür, während wir an einer Ampel warteten, und eine junge blonde Frau in einem goldenen Cocktailkleid glitzerte beim Rauchen im Garten, während ihre Stilettos im Rasen versanken.
    Hinter uns hupte jemand. Die Ampel war grün geworden. Meine Mutter hat seit dem Sonnenaufgang in der Nacht davor nicht mehr geschlafen, und wie gut dokumentiert ist, können lange Spannen Tageslicht die Reflexe eines Menschen schwächen. Einige Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Beeinträchtigung ungefähr dem Effekt von zwei Gläsern Bier oder Wein entspricht.
    »Aber mein Hauptvorsatz ist«, sagte sie und trat das Gaspedal durch. »Hörst du zu?«
    Ich nickte.
    »Ich werde wieder spielen.«
    An der Kurve lag der Stausee, der wochenlang von toten Vögeln verstopft gewesen war. Der Wasserspiegel war niedriger als normalerweise, und manche machten die Verlangsamung für den Regenmangel verantwortlich und dafür, dass das Ufer des Sees freilag, wodurch die schwarzen Schlammschichten entblößt wurden – was irgendwie unschicklich wirkte – und auch die verschlungenen Wurzeln der Bäume, die nicht an ein Leben außerhalb des Wassers gewöhnt waren.
    »Ganz im Ernst«, sagte sie. Ihre Kristallohrringe schwangen durch die Luft, als sie mir den Kopf zuwandte. »Ich habe meinen alten Agenten angerufen und alles.«
    Ihre nackten Schultern schimmerten schwach im Licht wegen eines neuen Bräunungspuders, den sie auf ihre Haut gestäubt hatte. Ein zartvioletter Lippenstiftfleck blitzte auf einem ihrer Schneidezähne auf, als sie lächelte.
    Und da kam mir der Gedanke: Vielleicht wusste sie schon von Sylvia.
    Wir fuhren noch ein paar Minuten weiter. Meine Mutter wurde still. Die Straße verengte sich. Die Sonne schien uns in die Augen. Ich erinnere mich an die Bäume, die draußen an uns vorbeifegten, die Äste schwarz vor einem leuchtend blauen Himmel.
    Später würde sie das Gefühl als eine Art Schwindel beschreiben, eine plötzliche Verengung ihres Sichtfelds, aber in dem Moment selbst sagte sie sehr wenig. Sie rieb sich die Stirn. Sie blinzelte heftig.
    »Mir ist nicht so gut«, sagte sie.
    Nur einen Augenblick später verließ sie mich. Ich hatte noch nie einen Menschen ohnmächtig werden sehen. Ihr Körper erschlaffte, der Kopf fiel nach vorn, die Hände sanken vom Lenkrad. Hinterher wurde geschätzt, dass wir siebzig Stundenkilometer fuhren.
    Augenzeugen berichteten von einem bärtigen Mann in einem langen weiten Gewand, der am Straßenrand Bibelstellen brüllte. Laut ihren Angaben näherte sich um circa 20:25 Uhr von Westen her ein Kombi. Über die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zum Zeitpunkt des Aufpralls gingen die Meinungen auseinander, aber alle waren sich einig, dass der Mann unvermittelt vor den Wagen sprang, auf Selbstmord oder auf ein Wunder aus. Mindestens sechs andere Autos waren ihm erfolgreich ausgewichen. Unseres war das siebte.
    Ich sah ihn nur eine Sekunde lang, und ich fasste dabei gleichzeitig nach dem Lenkrad, das plötzlich vom Griff meiner Mutter befreit war,

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