Ein Jahr voller Wunder
gern ein, dass es so vielleicht zwischen meinem Vater und Sylvia anfing. Ich stelle mir vor, wie mein Vater in einer langen weißen Nacht nach zwölf aus der Klinik zurückkehrte, wie es oft vorkam, und Sylvia gerade mit Sonnenhut ihre Sträucher zurückschnitt oder auf dem Rasen ein Buch las, während wir anderen zu schlafen versuchten. Vielleicht winkte sie meinem Vater zu, als er aus dem Auto stieg. Vielleicht unterhielten sie sich ein Weilchen. Vielleicht gab es dutzende solcher weißen Nächte, in denen die beiden in die Sonne blinzelten, während alle Vorhänge in unserer Straße zugezogen waren. Vielleicht waren sie in diesem exzessiven Tageslicht etwas leichtsinniger als sonst gewesen, weniger geneigt nachzudenken, bevor sie handelten.
Aber an dieser Stelle würde meine Mutter mich unterbrechen. »Du kannst der Verlangsamung nicht an allem Schuld geben«, würde sie sagen. »Die Menschen sind für ihre Taten selbst verantwortlich.«
Am nächsten Morgen kam mein Vater durch unsere Haustür, als wäre er derselbe Mann, den ich immer gekannt hatte. Ich saß am Tisch, vor mir eine Schale Jogurt. Meine Mutter goss Kaffee ein. Ich hatte ihr nicht erzählt, was ich wusste. Anfangs erzählte ich es niemandem.
»Morgen«, sagte er. Es war noch dunkel draußen. Die Kälte wehte hinter ihm herein. Er trat sich die Schuhe auf der Matte ab. Er hängte seinen Schlüsselbund an den Haken in der Küche. Dann küsste er meine Mutter auf die Wange und legte mir die Hand auf den Hinterkopf. »Bereit für deine Mathearbeit?«
»Das war gestern«, sagte ich. »Meine Güte.«
Ich ließ meinen Jogurt in der Schale hin und her schwappen. Ich konnte nichts essen.
»Ach, stimmt ja«, sagte er. »Entschuldige. Ich bin durcheinandergekommen.«
In dem Moment hasste ich ihn, wie er in seinem weißen Kittel in unser Haus gerauscht kam, als hätte er ihn nicht erst angezogen, kurz bevor er die Tür aufschloss.
»Wie war’s in der Arbeit?«, fragte meine Mutter. Sie sah alt aus im Bademantel ohne Make-up.
»Gut.« Er lehnte sich an die Wand und schälte mit dem Daumen eine Orange. Das war das Schlimmste daran: Er wirkte entspannt.
»Ich bin erschöpft«, sagte er. »Ich muss ein bisschen schlafen.«
Langsam ging er die Treppe hinauf, die Orange aß er im Gehen und spuckte Kerne in die hohle Hand. Ich hörte die Schlafzimmertür hinter ihm ins Schloss fallen.
Dann war ich wieder allein mit meiner Mutter. Ich wusste nicht, wohin ich schauen sollte.
Noch tagelang kreiste ein Schwarm magischer Gedanken in meinem Kopf. Zum Beispiel überraschte es mich irgendwie, dass die Stunden trotz dem, was ich wusste, weiter vergingen. Es war beinahe ein Schock, dass die Zeit nicht stehen blieb. Stattdessen ging unser Leben weiter. Mein Vater kam und ging. Unsere Herzen schlugen. Ich ging zur Schule wie immer und hoffte jeden Tag darauf, dass Seth Moreno zurückkäme. Wir feierten Weihnachten, und die Welt drehte sich weiter.
Sechs Tage verstrichen: Silvester.
Ich habe nie verstanden, warum die Verlangsamung sich nicht sofort auf die Erdbahn auswirkte oder warum wir uns am letzten Tag jenes ersten Jahres ungefähr auf derselben Position innerhalb des Sonnensystems befanden wie im Vorjahr an diesem Tag. Die Erde zog ihre gewohnte Schleife um die Sonne, ihre vierhundertmilliardste, eines der wenigen Dinge in jenem Jahr, die tatsächlich auf Kurs blieben.
An Silvester ging die Sonne in Kalifornien um 3:00 morgens auf, und neunzehn Stunden später, um acht Uhr abends, als meine Mutter den Schlüssel im Zündschloss drehte und unseren Wagen rückwärts aus der Einfahrt setzte, blinzelten wir immer noch. Wir wollten zu meinem Großvater, wo ich übernachten sollte, damit meine Eltern unbesorgt eine Silvesterparty besuchen konnten.
»Ich hätte auch zu Hause bleiben können«, sagte ich. Eine lila Reisetasche knautschte sich auf meinem Schoß.
»Das haben wir doch schon besprochen«, sagte meine Mutter. »Es wäre etwas anderes, wenn du zu einer Freundin könntest.«
»Ich hätte zu Michaela gekonnt.«
»Du weißt genau, dass du nirgendwo übernachten darfst, wo die Eltern nicht zu Hause sind.«
Zudem hatte Michaela mich nicht gerade eingeladen. »Wenn du willst, kannst du kommen«, hatte sie am Vortag beim Fußballtraining gesagt.
Wir fuhren von der Küste auf der alten zweispurigen Straße unter einem weiten und grellen Himmel nach Osten. Es war die einundzwanzigste Stunde Tageslicht. Mein Vater war noch in der Klinik – oder zumindest
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