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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Lenkrad angeschlagen.
    »War er bei Bewusstsein?«, fragte meine Mutter.
    »Sie tun, was sie können.«
    Jahre später hörte ich von der folgenden Statistik:
    Vor der Verlangsamung hatte ein Fußgänger, der mit einer Geschwindigkeit von fünfundsechzig Stundenkilometern von einem Fahrzeug erfasst wurde, eine Chance von eins zu zehn, den Aufprall zu überleben. Nach der Verlangsamung halbierte sich die Überlebensrate. Nicht nur Basebälle fielen hinterher schneller und härter; jeder bewegte Körper wurde zunehmend heftig auf den Boden gezogen.
    Schließlich wurde meine Mutter zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Die Sanitäter vermuteten eine Gehirnerschütterung. Ich war unverletzt und wartete auf dem Rücksitz eines Streifenwagens auf meinen Vater.
    Unterdessen wurden unsere Bremsspuren gemessen. Ein Abschleppwagen traf ein. Jemand kehrte die Scherben zusammen. Die Brise frischte zu einem Wind auf, und die Eukalyptusbäume, die die Straße zu beiden Seiten säumten, wurden durch die Luft gepeitscht und gaben durch ihr Schwanken den Blick auf eine klare weiße Mondsichel frei, die tief am hellen Horizont hing.
    Der Himmel war immer noch blau und die Sonne stand immer noch hoch, als mein Vater die Tür des Streifenwagens öffnete.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Du hast dir doch nicht den Kopf gestoßen, oder?«
    »Nein.« Ich vermutete, dass er von Sylvia kam. Ich malte mir den hastigen Abschied auf der Veranda aus, einen kurzen Kuss im Flur, Sylvia, die sich die Haare zu einem Knoten schlang, während sie winkte. So stellte ich mir diese Dinge vor. In Wirklichkeit wusste ich nichts darüber. Vielleicht war er tatsächlich aus der Arbeit gekommen.
    »Ist dir nicht schwindlig?«, fragte er.
    Ich schüttelte den Kopf.
    Er sah mir prüfend in ein Auge und dann in das andere, und ich überprüfte ihn ebenfalls: auf Indizien. Aber sein Kragen saß gerade und die graue Krawatte fest. Das Namensschild klemmte ordentlich an der Brusttasche.
    »Komm, wir gehen.« Er nahm meine Hand in seine.
    Mein Großvater steckte mitten in einer Art Projekt, als wir ankamen. Jeder Schrank stand offen und leer. Sämtliche Erbstücke waren aus den Regalen geräumt, der Krimskrams von den Simsen genommen. Die Speisekammer war kahl, und die Küchenschubladen waren herausgezogen und hingen schräg nach unten.
    »Das ging ja schnell«, sagte mein Großvater, als er mich bemerkte. Die Fliegengittertür prallte hinter mir auf den Rahmen. Er drehte den Riegel fest zu. Noch nie hatte ich ihn diese Tür abschließen sehen. »Geht’s dir gut?«
    »Ich glaub schon«, sagte ich.
    Draußen knirschten die Reifen meines Vaters auf dem Kies der Einfahrt. Er fuhr ins Krankenhaus, um bei meiner Mutter zu sein.
    »Keinen Kratzer hast du abgekriegt«, sagte mein Großvater. Seine Haare, milchig weiß, standen ab wie Unkrautbüschel, und er trug, was er seine Arbeitskleidung nannte: eine ausgewaschene Jeanslatzhose und ein grünes Flanellhemd. »Wenn du Hunger hast, mach ich dir ein bisschen Thunfisch.«
    Es war immer noch hell draußen, aber das Haus meines Großvaters war dunkel. Die Vorhänge waren zugezogen, das Innere von ein paar gelben Lampen schwach beleuchtet.
    Mein Großvater schlurfte durch das Dämmerlicht ins Esszimmer, wo der Inhalt des gesamten Hauses auf jeder ebenen Fläche ausgebreitet lag. Auf der dunklen Tischplatte waren Kostbarkeiten in Reihen angeordnet, wie zum Verkauf. Auf dem Fußboden warteten halb volle Pappkartons.
    »Willst du weg?«, fragte ich.
    Er hatte sich an den Tisch gesetzt und blätterte durch einen Stapel uralter Postkarten.
    »Will ich weg?« Er sah mich an, seine Augen waren blass und wässrig, ein verschwindendes Blau. »Wo sollte ich denn hin?«
    Auf dem Tisch standen seine Sammlungen alter Colaflaschen, vom Meer angespülter bunter Glasscherben und Seeigel. Das lange nicht polierte und deshalb trüb angelaufene silberne Teeservice meiner Großmutter wurde umringt von einer Mannschaft staubiger Porzellanfigürchen, daneben lag ein Ziermesser aus Alaska, dessen Griff aus dem Elfenbeinstoßzahn eines Wals geschnitzt war. Am hinteren Tischende glänzten Türme von Sondermünzen in ihren Hüllen, jede einzelne in Plastik verpackt und nie in Umlauf gewesen.
    »Und was machst du dann?«, fragte ich.
    Er drückte eine Lupe fest auf den unteren Rand einer verblassten Postkarte. Seit Jahren trübten seine Augen sich, so dass er nur mehr eine bruchstückhafte Wahrnehmung hatte.
    »Tu mir mal einen Gefallen.« Er

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