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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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tippte mit einem dicken Zeigefinger auf die Karte. »Sag mir, was da steht.«
    Das Foto war nachträglich koloriert worden, die Hügel grün angemalt, die Dächer künstlich rot.
    »Childer, Alaska«, las ich vor. »1956.«
    »Siehst du den Berg hier?« Er fuhr eine Erdwölbung nach, die bedrohlich über einer Ansammlung von Häusern und Kirchtürmen aufragte. »Ein Jahr später ist der ganze Kamm bei einem Unwetter abgerutscht.«
    Etwas weiter entfernt im Viertel pfiffen und knallten die ersten Raketen – immerhin war Silvester. Tageslicht strahlte weiterhin unter dem Saum der Vorhänge herein. Hier im Haus roch es nach Staub und Mundspülung.
    »Ich war bei einer Hochzeit, als es passiert ist«, fuhr er fort. »Dreiundzwanzig Menschen wurden lebendig begraben.«
    Von den sechsundachtzig Jahren meines Großvaters auf Erden hatte er zwei in Alaska verbracht, wo er in Goldminen und später auf diversen Fischerbooten arbeitete. Aber diese beiden Jahre hatten sich in seinem Gedächtnis schwammartig ausgedehnt und viel vom Rest überlagert. Ganze Jahrzehnte waren in Kalifornien vergangen, ohne eine einzige erwähnenswerte Anekdote zu hinterlassen.
    »Ich hatte Glück«, sagte er. »Ich saß ganz hinten in der Kirche. Aber die Braut und der Bräutigam und ihre Eltern, die Geschwister der Braut und der Pfarrer. Alle verschluckt.«
    Er schüttelte den Kopf. Ein leises Pfeifen kam über seine Lippen.
    »Junge, Junge«, sagte er.
    Er strich mit einer Fingerspitze über die Karte. »Und siehst du das Haus hier? Der Bruder des Bräutigams hat auf einem Lachskutter gearbeitet, und es war gerade Lachssaison, deshalb hat er die Hochzeit verpasst. Er ist als Einziger aus seiner Familie übrig geblieben. Hinterher hat er sich in genau dem Haus da aufgehängt.«
    Mein Stuhl knarrte unter mir. Ich hörte die Uhren ticken; er hatte eine ganze Sammlung von Uhren, alle antik, zwei davon so groß wie er, die jede Stunde schlugen und nie gleichzeitig.
    »Es sind wohl viele schlimme Sachen passiert, als du in Alaska warst«, sagte ich.
    Er lachte und rieb sich die rosa Falten auf seiner Stirn. »Das würde ich nicht sagen. Nicht mehr als sonst wo.«
    Er drehte die Karte um. Die Rückseite war bis auf einen hellroten Fleck in einer Ecke leer.
    »Blutest du?«, fragte ich. Es machte mir Angst, wie leicht er zu bluten anfing.
    Er untersuchte seine Finger. »Verdammt.« Schwerfällig stand er auf und stapfte in die Küche.
    Seine Haut war in den vergangenen Jahren dünn geworden, sein Blut gerann langsamer. Aus einem Schnitt an einer Papierkante konnte es minutenlang fließen. Während er den Finger unter kaltes Wasser hielt, erforschte ich die Kartons auf dem Esszimmerboden. Darin waren Alben mit Schwarzweißfotos von meinen Großeltern in schicken Hüten und pelzgefütterten Mänteln, von meinem Vater als Kleinkind und später in einem Baseballtrikot neben einem riesigen abgerundeten Kotflügel auf ein Fahrrad gelehnt. Es gab ein ganzes Album von mir, seinem einzigen Enkelkind, vom Tag meiner Geburt bis hin zum neuesten Schulbild, auf dem meine Augen halb zu waren, im Begriff zu blinzeln, was das langwierige Auswählen des cremefarbenen Mohairpullis, den ich an dem Tag trug, unerheblich machte.
    Und dann war da dies: In einem verstaubten Schuhkarton fand ich vier dicke Stangen massives Gold, zusammengepackt wie Schokoriegel.
    »Hey«, sagte mein Großvater. Ein schiefes Pflaster schmückte jetzt seinen Daumen. »Da solltest du nicht dran.«
    Ich hatte einen aus der Kiste gehoben. Er lag kalt und schwer in meiner Hand. Mein Großvater nahm mir den Barren weg und legte ihn zu den anderen.
    »Aber wo du es schon getan hast, sage ich dir was, das du dir merken solltest.« Er klappte den Deckel zu und schob den Karton in eine Ecke. »Gold ist das Sicherste, was es gibt. Besser als Dollars, besser als Banken.«
    Ich bemerkte, dass die Sonne endlich hinter den Vorhängen unterging. Ein zartrosa Abendrot leuchtete durch die Ritzen. Die Dunkelheit würde mindestens bis zum folgenden Abend anhalten.
    »Das ist echt, weißt du«, sagte mein Großvater. »Am Anfang hab ich es ja nicht geglaubt. Aber es passiert tatsächlich.«
    In anderen Häusern, stellte ich mir vor, knallten Korken, perlten Gläser, wurden Papphüte auf Köpfe gesetzt. Ich hatte gehört, dass Hanna mit Traceys Eltern nach Palm Springs gefahren war. Ich fragte mich, was Seth Moreno wohl gerade machte.
    »Und niemand kümmert sich drum«, fuhr mein Großvater fort. »Sie stellen uns

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