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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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daher kann ich mich nicht darauf verlassen, mich richtig zu erinnern, aber es heißt ja, dass die Zeit sich in Momenten der Gefahr verlangsamt – man sieht mehr. Jedenfalls erinnere ich mich an Folgendes: an den Blick des Mannes in dem Moment, als seine Miene sich von einer Art Gewissheit in Angst verwandelte, und dann an das tierhafte Zurückschrecken – er drehte sich weg und schlang im letzten Moment die Arme um den Kopf.
    Ich erinnere mich an den dumpfen Knall auf der Motorhaube und das Quietschen der Reifen, als meine Mutter zu sich kam und auf die Bremse trat – sie war weniger als zehn Sekunden bewusstlos gewesen – und das Leben zurück in ihr Gesicht schoss. Mein Gurt ruckte. Das Auto schlitterte. Wir blieben stehen. Ich spürte einen jähen Luftzug auf den Wangen, begleitet vom Gestank des Düngers der nahe gelegenen Poloplätze. Die Windschutzscheibe war offen. Ein dürrer Vorhang aus Sicherheitsglas hing zersplittert im Rahmen. Aber das Blut, das sonst überallhin gespritzt war, hatte keine Spuren auf den Scherben hinterlassen.
    Meine Mutter atmete schwer. Jemand stöhnte. Glaspailletten flimmerten auf meiner Jeans.
    »Alles okay bei dir?«, fragte meine Mutter. Sie packte meine Schultern mit beiden Händen. Ein schmales Rinnsal Blut lief an ihrem Haaransatz entlang und sammelte sich im Ohr.
    »Ist bei dir alles okay?«, fragte ich.
    »Was ist passiert?«
    Zwei Surfer sprangen aus einem VW-Bus, ihre Sandalen klatschten auf das Pflaster, die Neoprenanzüge waren auf die Taille heruntergezogen. Sie rannten an unserem Auto vorbei zu einer Stelle gleich vor uns, wo sie tief in die Hocke gingen und sich berieten. Hinter ihnen fing ein Jogger an, den Verkehr zu regeln.
    In der Ferne kreischten Sirenen.
    Meine Mutter beugte sich aus dem Fenster und blickte dorthin, wo die Surfer kauerten und wonach der Jogger sich immer wieder umdrehte. »Oh Gott.« Sie legte sich eine Hand auf den Mund, sprach aber weiter. »Oh mein Gott«, sagte sie durch die Finger. »Oh mein Gott.«
    Die Surfer verdeckten mir zum Teil die Sicht auf sein Gesicht, aber ich konnte seine untere Hälfte sehen, die gespreizten Beine, die Hände mit den Flächen nach oben; der ganze Körper lag absolut reglos da. Und daran erinnere ich mich ebenfalls: Ein Knie war falsch herum abgeknickt.
    In dem Moment formulierte ich einen Vorsatz oder etwas Einfacheres, ein Gebet: Wenn dieser Mann überlebt, werde ich mich nie wieder über etwas beklagen.
    Vom Boden neben ihm wehten einige orangefarbene Flugblätter hoch, flatterten davon wie Löwenzahnsamen. Eines flog durch die offene Windschutzscheibe in unser Auto und landete auf meinem Schoß. Es war die Kopie einer Kopie eines handgeschriebenen Zettels: Alle Sünder aufgepasst. Die Trompeten erschallen, das Ende ist da. Tut Buße oder stellt euch dem Zorn Gottes.
    Zwei Streifenwagen und ein Feuerwehrauto schossen um die Ecke und hielten am Straßenrand. Zwei Krankenwagen tauchten mit Blaulicht auf. Ein Strom von Tränen ließ meinen Blick verschwimmen. Hier waren Fremde, die einem Fremden zu Hilfe eilten.
    Dem Polizeibericht zufolge wurde der Mann ins St. Anthony’s Hospital drei Kilometer von der Unfallstelle entfernt gebracht. Später am selben Abend würden vierzehn Mitglieder einer Selbstmordsekte auf vierzehn separaten Bahren durch die Türen derselben Notaufnahme geschoben werden, bewusstlos und mit flachem Atem, die Fingernägel schon leicht bläulich vom Arsen, das in ihren Adern schwamm. In der Überzeugung, die Welt gehe unter, vergifteten sie ihre Weingläser um Schlag Mitternacht. Während andere sich küssten und Sekt tranken, würden diese vierzehn zu den Klängen von Auld Lang Syne sterben.
    In einem parkenden Krankenwagen säuberte ein junger Sanitäter die Wunde meiner Mutter und überprüfte dann ihre Pupillen auf Anzeichen für eine Gehirnerschütterung. Eine Polizistin mit Spiralblock stellte Fragen.
    »Wie schnell sind Sie ungefähr gefahren?«
    »Ist er tot?«, fragte meine Mutter. Sie sah sich ständig um. Orange leuchtende Kegel waren aus dem Asphalt gesprossen. Ein Streifen gelbes Absperrband flatterte in der Brise. Unser Auto blieb erstarrt auf seiner Spur, die Spiegel glitzerten im Sonnenschein.
    »Er wird behandelt«, sagte die Polizistin. »Fünfundsechzig Stundenkilometer? Fünfzig?«
    »Aber wird er sterben?«
    Das Kleid meiner Mutter rutschte auf ihrer Brust immer tiefer. Ein dunkelblauer Fleck bildete sich neben der Platzwunde auf der Stirn. Sie hatte sich den Kopf am

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