Ein Jahr voller Wunder
Mutter. »Bleib noch ein bisschen bei mir hier unten. Wir können auch über etwas anderes sprechen.« Sie machte eine Pause. »Bitte.«
Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie die Augen meiner Mutter vor der Verlangsamung ausgesehen hatten. Waren sie schon immer so rot am Rand gewesen? Diese Tränensäcke unter den Wimpern waren doch auf jeden Fall neu. Sie schlief immer noch schlecht, aber vielleicht war es auch einfach das Alter, eine allmähliche Veränderung, die mir bisher nicht aufgefallen war. Manchmal spürte ich den Drang, neuere Fotos von ihr zu betrachten, um den genauen Zeitpunkt zu ermitteln, seit dem sie so müde aussah.
Manche Echtzeiter behaupteten steif und fest, die Zeit wirke sich mittlerweile auf sie anders aus als auf uns übrige, nach Echtzeit lebende Körper alterten weniger schnell. Die Vorstellung etablierte sich in Hollywood in Form einer Antiaging-Maßnahme, die in dieser Welt als Slow Time Cure bekannt wurde. Es hatte etwas mit dem Stoffwechsel zu tun. Hin und wieder überlegte ich damals, ob es auch bei meiner Mutter funktionieren würde.
Später, als ich schließlich wirklich in mein Zimmer ging und aus dem Fenster sah, entdeckte ich zu meiner Freude, dass Sylvia ihren Weihnachtsbaum geschmückt hatte. Winzige weiße Lichter schimmerten nun an den Zweigen.
Sylvias Vorhänge waren bis auf einen schmalen Spalt geschlossen. Mit meinem Teleskop konnte ich durch den Schlitz erkennen, dass sie da war. Sie war ein wehender Rock, ein offener Mund, eine rote Strähne, die am Fenster vorbeiflatterte. Und ausnahmsweise war sie nicht allein: Ein Männerarm flog schwungvoll ins Blickfeld, den Ärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt. Ich beobachtete, wie er einen Glitzerstern auf die Baumspitze setzte.
Der Mann legte den Arm um Sylvias schlanke Taille. Sie gaben sich einen kurzen Kuss. Ich freute mich, sie lächeln zu sehen.
Draußen in der Einfahrt stand Sylvias Auto allein, als wäre dieser Mann aus dem Nichts gekommen, einfach durch irgendeine Zauberei in ihrem Wohnzimmer aufgetaucht.
Ich sah noch einen Moment länger zu.
Und dann passierte es: Als er sich umdrehte, stellte ich fest, dass ich den Mund des Mannes kannte. Ich kannte die scharfe Kante seines Kiefers, den Winkel seines Haaransatzes. Ich kannte das blaue Hemd – ich erinnerte mich noch genau, wie es nagelneu ausgesehen hatte, als es am Vatertag im Steakhaus gestärkt und glatt gefaltet in einer silbernen Kaufhausschachtel lag, gekrönt von einer lila Karte, die ich selbst gebastelt hatte.
17
F ünftausend Jahre Kunst und Aberglaube deuten eigentlich darauf hin, dass die Dunkelheit uns am meisten zusetzt, dass der menschliche Geist in der Nacht am anfälligsten für Verstörungen ist. Doch eine ganze Reihe von in der Folge der Verlangsamung durchgeführten Experimenten enthüllte, dass es nicht die Finsternis war, die unsere Stimmung am stärksten beeinträchtigte – es war das Licht.
Als sich die Tage weiter ausdehnten, standen wir vor einem neuen Phänomen: Manche Uhrentage begannen und endeten, bevor die Sonne ein Mal aufging – oder eben sie begannen und endeten vor Sonnenuntergang.
Wissenschaftler hatten schon lange um die schädlichen Auswirkungen anhaltenden Tageslichts auf die chemischen Vorgänge im menschlichen Gehirn gewusst. Die Selbstmordraten waren beispielsweise oberhalb des nördlichen Polarkreises am höchsten gewesen, wo die Anzahl selbst zugefügter Schusswunden jeden Sommer stark anstieg, weil die unaufhörliche Helligkeit manche Leute in den Wahnsinn trieb.
Als die Tage annähernd achtundvierzig Stunden dauerten, begannen wir in den tieferen Breitengraden ähnlich unter der Unerbittlichkeit des Lichts zu leiden.
Bald belegten Studien eine gesteigerte Impulsivität während der langen Tageslichtphasen. Es hatte etwas mit dem Serotonin zu tun – wir waren alle ein bisschen durchgedreht. Das Online-Glücksspiel nahm in den hellen Zeiträumen jeweils stetig zu, und einiges lässt darauf schließen, dass große Börsengeschäfte öfter bei Licht als bei Dunkelheit getätigt wurden. Auch Mord und andere Gewaltverbrechen häuften sich, solange die Sonne sich in unserer Hemisphäre aufhielt – wir entdeckten sehr rasch die Gefahren der weißen Nächte.
Wir gingen mehr Risiken ein. Begehrlichkeiten waren weniger stark unter Kontrolle. Es wurde schwerer und schwerer, der Versuchung zu widerstehen. Manche von uns trafen Entscheidungen, die sie sonst möglicherweise nicht getroffen hätten.
Und ich bilde mir
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