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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Senken ihres Kopfs, wenn sie nickte. Mir wurde bewusst, dass ich fast zwei Tage für jeden von ihren lebte. Auf lange Sicht würde Sylvia, wenn sie so weitermachte, um Monate hinter uns zurückfallen und dann um Jahre.
    Ich spähte über Sylvias Schulter ins Haus.
    »Haben Sie keinen Weihnachtsbaum?«, fragte ich.
    »Ach«, sagte sie. »Ich hatte dieses Jahr keine Lust, mich mit alldem zu befassen.«
    Ihre Windspiele aus Muscheln klapperten leise über meinem Kopf.
    »Danke noch mal«, sagte sie und schloss langsam die Tür. »Pass auf dich auf, Julia. Vergiss nicht, zu üben.«
    Ein paar Tage später hielt ein Lieferwagen vor Sylvias Haus. Zwei junge Männer mit dicken grünen Handschuhen klappten schwungvoll die Hecktür auf und brachten einen Weihnachtsbaum zum Vorschein, den sie vorsichtig die Rampe hinunterrollten. Es war einer mit Wurzeln. Er wurde in einem Tontopf geliefert und sollte in den Garten gepflanzt werden, wenn man ihn nicht mehr brauchte. Sylvia schleppte ihn selbst ins Haus. Sie stellte ihn in ihrem Wohnzimmer auf und ließ ihn dort einfach stehen, unbeleuchtet und ungeschmückt. Aber es schien besser als nichts. Ihr Haus sah etwas weniger traurig aus.
    Am selben Tag kehrten Tom und Carlotta zurück, auf Kaution entlassen. Sie warteten auf ihren Prozess.
    »Wie lange müssen sie ins Gefängnis, glaubt ihr?«, fragte ich meine Eltern an jenem Abend. Mein Großvater war zum Essen gekommen.
    »Das hängt davon ab«, sagte meine Mutter. »Wahrscheinlich lange.«
    »Was haben sie angestellt?«, fragte mein Großvater. Er nahm einen zittrigen Schluck Milch.
    »Sie hätten diese armen Leute in Ruhe lassen sollen«, sagte mein Vater. Es war sein freier Tag, aber er war schön angezogen: frisch rasiert, Hemd.
    »Ich weiß immer noch nicht, was sie gemacht haben.« Mein Großvater sprach jetzt lauter als vorher. Er nahm einen großen Bissen Lachs und sah mich beim Kauen fragend an. »Julia, weißt du es?«
    »Drogen, Gene«, sagte meine Mutter. »Sie haben Drogen angepflanzt.«
    Mein Großvater hustete und spuckte etwas in seine Serviette. Dann hielt er eine winzige Gräte, so dünn wie eine Faser, ins Licht.
    »Wem haben sie denn geschadet?«, fragte mein Vater.
    »Du hast nicht gesehen, wie viel Gras sie aus diesem Haus geholt haben«, sagte meine Mutter. Sie sah mich an. »Es ist nun mal verboten.«
    Mein Vater schaufelte sich den Rest von seinem Lachs in den Mund, ohne aufzublicken. Meine Mutter goss sich ein Glas Rotwein ein. Unser Weihnachtsbaum funkelte neben uns, und in der folgenden Stille konnte ich das Arbeiten der Lichterkette hören, ein hauchzartes metallisches Klicken.
    Nachdem er meinen Großvater nach Hause gefahren hatte, wurde mein Vater unerwartet in die Klinik gerufen: eine komplizierte Geburt, das Krankenhaus war knapp besetzt.
    Meine Mutter und ich saßen eine Zeitlang auf dem Sofa und sahen uns eine Sendung über einen der letzten isolierten Stämme des Amazonas an. Erst kürzlich hatte sich die ganze Gruppe den brasilianischen Behörden am Rande des Regenwalds gestellt, weil sie davon überzeugt war, dass die Brasilianer nicht nur fliegen konnten – seit Jahrzehnten überquerten Flugzeuge den Himmel des Stammes –, sondern nun auch noch die Herrschaft über Sonne und Mond übernommen hatten.
    Meine Mutter rutschte unter ihrer Decke herum. Es war ein dunkler Abend. Das Haus war kalt.
    »Ich finde, wir beide sollten uns mehr unterhalten«, sagte sie.
    Ich wurde stocksteif.
    »Wie meinst du das?«, fragte ich.
    Sie richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm, und der Ton verebbte.
    »Was ist zum Beispiel mit Jungs?«
    »Was?«
    Sie sah mich von der Seite an, und ich wandte den Kopf ab. Eine Zimt-Weihnachtskerze flackerte auf dem Couchtisch, und ich starrte in die Flamme.
    »Ich höre dich nie über die Jungs in der Schule reden.«
    »Warum sollte ich denn über die reden?«
    Seth Moreno hatte ich eine Weile nicht mehr gesehen, und ich befürchtete, er wäre endgültig weg. Michaela hatte gehört, er und sein Vater seien nach dem Tod seiner Mutter in eine Echtzeitkolonie gezogen.
    »Sprichst du überhaupt mal mit Jungs?«
    »Mama«, sagte ich. »Du bist komisch.«
    »Interessierst du dich denn für irgendeinen?«, ließ sie nicht locker.
    Überall auf der Welt machten die Leute verrückte Sachen. Jeder ging neue Risiken ein, große Wagnisse. Aber ich nicht. Ich schwieg. Ich hütete meine Geheimnisse.
    »Ich bin echt müde«, sagte ich. »Ich geh ins Bett.«
    »Noch nicht«, bat meine

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