Ein Jahr voller Wunder
einfach wieder auf die Uhr um und glauben, das löst das Problem, aber niemand trifft irgendwelche Vorbereitungen für das, was auf uns zukommt.«
Er seufzte schwer und stand auf.
»Denk an die Vögel«, sagte er. »Vögel waren schon immer Boten. Nach der Sintflut hat eine Taube mit einem Ölzweig Noah gezeigt, dass es vorbei ist. So wusste er, dass er die Arche verlassen konnte. Denk drüber nach. Unsere Vögel tragen keine Ölzweige. Unsere Vögel sterben.«
Er hatte seine Aufmerksamkeit dem alten Jagdgewehr zugewandt, das er im Flurschrank aufbewahrte. Es war von einer Staubschicht überzogen, die er mit dem Handrücken wegwischte. Seit Jahren hatte er es nicht benutzt.
»Erinnere mich bei deinem nächsten Besuch dran, dass ich dir zeige, wie man schießt.«
»Wie man schießt, Opa?«
»Das meine ich ernst«, sagte er. »Das hier ist ernst. Ich mache mir Sorgen um uns alle.«
Später sah ich mir auf dem klobigen Fernseher meines Großvaters Aufzeichnungen der früheren Feuerwerke in Tokio, Nairobi und London an, während das neue Jahr über den Planeten westwärts trieb.
Es hatte eine längere Debatte über den Zeitpunkt gegeben. Rein rechnerisch hinkten wir einen Tag hinterher, wegen der Wochen, die wir nicht nach der Uhr gelebt hatten. Aber eine rasche Lösung war ausgearbeitet und vom Großteil der Regierungen der Welt angenommen worden: Wir hatten den 30. Dezember einfach übersprungen, ein zusätzlicher, einmaliger Schritt, um die verlorene Zeit aufzuholen.
Zwischen den Feuerwerken berichteten die Fernsehnachrichten, dass einige religiöse Führer ihre Herden in Kirchen versammelt hatten, in der Angst oder Hoffnung, der letzte Tag des Jahrs der Verlangsamung brächte vielleicht auch das Hinscheiden dieser Welt mit sich.
Ich schlief vor Mitternacht in einem Sessel ein. Ich träumte von Blut und Glasscherben, von einem mit einem Ruck zum Stehen kommenden Auto. Stunden später wachte ich im blauen Licht des Fernsehers auf, mit zusammengebissenen Zähnen und vom Liegen auf der Armlehne steifem Nacken. Die Sonne war endlich untergegangen, mein Großvater im Bett. Das Jahr hatte gewechselt, während ich schlief. Ein neues war in der Dunkelheit angebrochen. Alles schien in jenen Tagen möglich. Jede Voraussage konnte sich als wahr erweisen. Und das beunruhigte mich auf eine neue Weise: nicht zu wissen, was das nächste Jahr bringen würde.
Am Morgen holten meine Eltern mich auf dem Heimweg vom Krankenhaus ab. Es gab keine Neuigkeiten von dem Fußgänger.
Meine Mutter trug immer noch ihr, inzwischen zerknittertes, schwarzes Kleid. Die Kristallohrringe hielt sie in der Hand. An einem Handgelenk hing ein Plastikarmband der Klinik mit ihrem Namen. Mein Vater führte sie sanft ins Haus, als hätte sie die Augen verbunden, knipste Lichtschalter mit einer Hand an und ließ die andere auf ihrem Rücken liegen.
Der blaue Fleck würde verblassen. Die Platzwunde würde zuwachsen. Alle Knochen waren heil. Mithilfe eines Kernspintomografen hatten die Ärzte ihr Gehirn auf verborgene Schäden abgesucht und keine gefunden. Aber dieser Apparat konnte natürlich nicht ihre Psyche durchleuchten. Und zu dieser Zeit wusste man noch fast nichts über das Syndrom.
18
A nfangs nannten wir es Schwerkraftkrankheit, später Verlangsamungssyndrom, und schließlich käme eine Zeit, in der man einfach nur das Syndrom erwähnen musste und jeder verstand, was man meinte. Die Symptome waren breit gefächert, aber verwandt: Schwindel, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und manchmal, wie im Fall meiner Mutter, Ohnmachtsanfälle.
Nur bestimmte Menschen waren betroffen. Ein Mann geriet vielleicht auf der Straße ins Stolpern. Eine Frau brach in einem Kaufhaus zusammen. Bei einigen kleinen Kindern kam starkes Zahnfleischbluten hinzu. Manche waren tagelang zu schwach, das Bett zu verlassen. Die genaue Ursache war unbekannt.
Meine Mutter ging in jener ersten Woche nach dem Unfall nicht zur Arbeit. Ihre Tage verbrachte sie damit, nach Neuigkeiten über den Fußgänger zu forschen, während sich auf der Wunde auf ihrer Stirn Schorf bildete und später eine Narbe. Ihr Schwindel kam und ging. Sie lief langsam durchs Haus, nie ohne sich an einem Geländer oder einer Wand abzustützen. Sobald das Gefühl sich legte, konzentrierte sie sich auf den Fußgänger. Sie rief das Krankenhaus an, bekam aber keine Auskunft. Sie schickte Blumen: Für den Mann, der an Silvester auf der Samson Road von einem Auto angefahren wurde . Sie flehte meinen
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