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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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Vater an, sich zu erkundigen, ob der Mann gestorben war, aber mein Vater wollte sich ungern einschalten. »Wir werden es über kurz oder lang erfahren«, sagte er.
    Sie schlief noch weniger als vorher, lag in den dunklen Nächten genauso oft wach wie in den hellen. Manchmal, wenn ich in pechschwarzen Nächten aufstand, fand ich sie bei der Suche auf obskuren lokalen Webseiten und Polizeiblogs, die Augen rot und wässrig, die Gesichtszüge vom weißen Licht des Bildschirms unschmeichelhaft hervorgehoben. In einer dieser Nächte wurde sie wieder ohnmächtig. Sie fiel vom Stuhl und biss sich so auf die Zunge, dass sie blutete.
    Sie fuhr nicht mehr Auto, und sie aß immer weniger. Ich fragte mich, welche Symptome wohl dem Tod von Seth Morenos Mutter vorausgegangen waren. Die Krankheiten waren unterschiedlich, das wusste ich, aber manchmal hatte ich Angst, das Ergebnis könnte dasselbe sein. Niemand wusste, wohin das Verlangsamungssyndrom womöglich führen würde.
    Der Morgen war hell und klar an dem Tag, als Seth Moreno wieder zur Schule kam.
    Seine dunklen Haare waren etwas länger geworden, und er hatte die neue Angewohnheit, die Ponysträhnen mit einem Daumen wegzuschnippen, aber abgesehen davon war er unverändert, derselbe müde Ausdruck auf dem Gesicht, derselbe langsame Gang, dasselbe Skateboard unter den Arm geklemmt. Ich hatte ihn seit dem Tod seiner Mutter nicht gesehen.
    Mein Bauch kribbelte, als er an jenem Morgen an der Bushaltestelle auftauchte. Ich überlegte, ob er meine Karte bekommen hatte.
    Verschiedene Gerüchte über seinen Verbleib seit dem Tod seiner Mutter waren zu mir durchgesickert: Er wohne bei einem Verwandten in Arizona oder sei in eine Echtzeit-Siedlung in Oregon gezogen oder gehe auf ein Internat in Frankreich.
    Doch hier war er nun an der Bushaltestelle. Er sprach mit niemandem an dem Morgen. Er stand abseits, wie immer. Ich wollte mit ihm reden, sagte aber kein Wort. Ich wollte in seiner Nähe sein, hielt aber Abstand.
    In Mathe nahm ich meine schweigende Betrachtung von Seth Morenos Hinterkopf wieder auf.
    Unterdessen verschoben sich die Meere, der Golfstrom verlangsamte sich, und Gabby rasierte sich den Kopf.
    Sie hatte mich eines Nachmittags zu sich eingeladen. Die Sonne war untergegangen. Der Himmel war schwarz und klar geworden. Auf dem Weg zu ihr kam ich an einer Gruppe kleinerer Kinder vorbei, die auf der Straße »Gespenster auf dem Friedhof« spielten, wobei einige sich hinter geparkte Autos oder Baumstämme kauerten, während andere paarweise suchten, an den Ärmel des jeweils anderen geklammert flüsternd durch die Schatten schlichen.
    »Pass auf«, sagte Gabby.
    Wir waren in ihrem Zimmer. Sie zog eine dicke Strähne schwarz gefärbter Haare straff vom Kopf ab und hielt eine Schere an den Ansatz.
    »Du schneidest sie dir selbst?«, fragte ich.
    Unten hämmerten Handwerker gegen eine Wand. Sie renovierten die Küche. Gabbys Eltern waren in der Arbeit.
    »Erst schneide ich sie alle ab«, sagte sie und klappte die Schere zu. »Und dann rasiere ich sie.«
    Die Haare rieselten von den Schneiden und landeten lautlos auf dem Teppich.
    »Aber warum?«, fragte ich. Sie schnitt noch eine Strähne ab. »Das dauert doch ewig, bis die nachwachsen.«
    Auf der Kommode empfing Gabbys Handy rasselnd eine SMS. Sie betrachtete das Display und grinste. Dann legte sie die Schere auf den Schreibtisch und schloss die Zimmertür ab.
    »Ich verrate dir ein Geheimnis. Aber du musst mir versprechen, dass du es niemandem weitererzählst.«
    Ich versprach es.
    »Weißt du noch, der Typ, den ich im Internet kennengelernt habe?«
    Ich nickte. Die Scheinwerfer eines Wagens strichen durchs Zimmer und verschwanden wieder.
    »Wir sprechen jeden Tag miteinander«, fuhr sie fort.
    Ich empfand einen Eifersuchtsstich.
    Der Junge war älter: sechzehn. Er wohnte fast zweihundert Kilometer entfernt in einer der neuen Kolonien, die in der Wüste aus dem Sand gesprossen waren.
    »Sie heißt Circadia«, sagte sie. Ich merkte ihr an, dass sie das Wort gern aussprach. »Die haben eine Schule und ein Restaurant und alles.«
    Ich hatte gehört, dass ähnliche Siedlungen in jedem Staat entstanden waren, aufgebaut von Exzentrikern, die die Uhrenzeit ablehnten. In den Häusern und Straßen dieser Gemeinschaften bestimmte die Sonne noch den Tag und die Nacht, und ich vermute, das Lebenstempo war tatsächlich langsamer, die Zeit kroch nur, eine allmählich vorrückende Flut.
    »Viele von den Mädchen dort rasieren sich den

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