Ein Jahr voller Wunder
Kolonien nach, die sich in der Wüste bildeten. Vielleicht verging die Zeit dort ja wirklich langsamer als da, wo wir lebten. Und falls ja, falls jedes Ereignis etwas länger brauchte, um zu geschehen, waren dann die Konsequenzen dieser Ereignisse ebenfalls weniger schnell?
Als ich zurück ins Haus ging, fand ich meine Eltern zusammen auf der Terrasse. Durch das Küchenfenster sahen sie nicht aus, wie ich erwartet hatte. Meine Mutter lachte und schüttelte den Kopf. Mein Vater hatte eine Hand fest auf ihr Knie gedrückt. Sobald meine Mutter mich durch die Scheibe entdeckte, winkte sie mich zu sich hinaus. Schon bevor ich die Tür aufmachte, war ich mir sicher, dass mein Vater die Nachricht noch nicht überbracht hatte.
»Stell dir vor«, sagte meine Mutter, als ich die Tür hinter mir zuzog und die kalte Messingklinke einrastete.
»Was denn?«, fragte ich.
Sie schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab und wandte sich an meinen Vater.
»Erzähl es Julia.« Sie setzte sich auf ihrem Liegestuhl auf, die Knie ans Kinn gezogen wie ein Teenager. »Erzähl schon.«
Mein Vater sah mir fest in die Augen. »Weißt du noch, der Mann von dem Unfall?«
Hinter ihm schüttelte ein schwacher Windzug den inzwischen ausgedörrten Jelängerjelieber.
»Ja?«
Und dann kam die Lüge, knapp und glatt und klar: »Ich habe heute erfahren, dass er überlebt hat.«
»Sie haben ihn aus dem Krankenhaus entlassen«, sagte meine Mutter. Unentwegt rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. »Er hatte nur ein paar Knochenbrüche«, fuhr sie fort. »Sonst nichts. Kannst du das fassen?«
Ich spürte Wut auf meinen Vater in mir aufsteigen. Sie verdiente, die Wahrheit zu erfahren.
Doch meine Mutter sah besser aus als seit Monaten. Ihre Haltung entkrampfte sich. Ihre Lachfältchen kehrten zurück. Ihr ganzes Gesicht wirkte anders – die Augen halb zusammengekniffen, die Wangen gewölbt, die Lippen geteilt, so dass man Zähne sah: ein Lächeln.
In diesem Moment wollte ich einfach nur zurücklächeln.
Zuerst kam es mir nicht richtig vor. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und ich hoffte, meinem Vater ginge es genauso. Aber der Stimmungswandel war einfach unwiderstehlich.
Die Lüge verbesserte alles.
Meine Mutter holte die schönen Kristallgläser und entkorkte einen der besonderen Rotweine, die sie in einem Regal über der Hausbar aufbewahrte. Sie kochte Linguine mit den getrockneten Tomaten, die meine Eltern vor ein paar Jahren aus Italien mitgebracht hatten, geerntet und in Olivenöl eingelegt, lange bevor die Verlangsamung einsetzte. Zum Nachtisch aßen wir Ananas aus der Dose. Es waren die letzten Ananas, die wir je in unserem Leben essen würden. Wir saßen im Sonnenschein mit vollen Bäuchen auf der Terrasse. Ich wünschte, ich würde mich an mehr solche Abende erinnern. Die Sonne stand hoch. Die Luft war warm. Die Erde drehte sich weiter. Aber ausnahmsweise mal machten wir uns keine Sorgen darum. Meine Mutter war glücklich, ihr Gewissen rein. Ich wusste, ich würde es nie verraten.
Auch mein Vater freute sich. Ich sah, wie er meine Mutter anblickte. Vielleicht liebte er sie. Vielleicht tat er das wirklich. Er muss im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit in der Klinik hunderte von Leben gerettet haben, aber weder davor noch danach machte er je einen Toten wieder lebendig.
21
C ynodon dactylon , auch bekannt als Hundszahngras, dessen gängigste Sorte Arizona Common ist: eine robuste Graspflanze, widerstandsfähig gegen Hitze und Trockenheit und daher früher beliebt für Rasenflächen und Golfplätze in den gesamten südwestlichen Staaten der USA. Aber Cynodon dactylon braucht extrem viel Sonne. Es kann nicht im Schatten gedeihen – oder länger anhaltende Dunkelheit überstehen. Und deshalb nahmen, als die Tage auf über fünfzig Stunden anwuchsen, tausende von Gärten – einschließlich unseres und sieben anderer in der Straße – langsam Schaden. Das Gras wurde dünner, braun und starb dann ab.
Mr Valencia ersetzte seinen Rasen durch Lavasteine. Eines Morgens wachte ich von lautem Klappern auf, als zwei Arbeiter die Steine in das flache Beet kippten, in dem vorher das Gras gewachsen war. Vor anderen Häusern lagen bald Kunstrasendecken. In einigen Gärten ragten riesige Wachstumslampen auf.
Während meine Eltern noch debattierten, was mit unserem Garten passieren sollte, wurde die ganze Wiese kahl. Die Erde verwandelte sich in Matsch. Regenwürmer wühlten sich an die Oberfläche, manche davon machten sich auf den Weg in
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