Ein Jahr voller Wunder
meiner Mutter ging. Überlebensausrüstungen waren gerade im Sonderangebot; ein Turm Konservendosen ragte draußen vor dem Eingang unter einem Schild auf, dessen Aufschrift lautete: Ist Ihre Familie vorbereitet?
Ich spazierte hinein. Ich war mir des Klapperns meiner Stollen auf dem Linoleum bewusst, als könnten sie mich verraten, aber niemand schien es zu bemerken. Die Neonlampen summten, wässrige klassische Musik plätscherte aus den Lautsprechern an der Decke.
Immer wenn ich mit meiner Mutter hier war, kamen mir bestimmte Gänge verboten vor, und jetzt war ich begierig darauf, sie allein zu erforschen. In der Kosmetikabteilung lagen auf fünfzehn Regalmetern in glitzernden Packungen all die Puder und Cremes und Pasten aus, die Lidschatten und Augenbrauenstifte, die Pinzetten und Knipser und Rasierer, die mich, wie ich allmählich argwöhnte, in der richtigen Kombination angewandt vielleicht in ein liebenswerteres und geliebteres Mädchen verwandeln würden.
Am hinteren Ende dieser Regalreihe stand ein älteres Mädchen mit ganz glatten schwarzen Haaren und einem klimpernden Autoschlüssel in der Hand und drehte Nagellacke auf, um die Farben auf ihren Nägeln auszuprobieren. Ich erinnere mich noch an das angenehme Klirren der Fläschchen, wenn sie aneinanderstießen. Ich beneidete das Mädchen um die lässige Art, mit der sie diejenigen, die ihr zusagten, in ihren Korb warf.
Hinter ihr hing an einem runden Gestell eine kleine Auswahl an BHs.
Es war mir zu peinlich, zu dem Gestell zu gehen, solange sie da war, deshalb schlenderte ich eine Zeitlang auf und ab, nahm Lippenstifte aus dem Regal und stellte sie wieder zurück. Als das Mädchen weg war, näherte ich mich den BHs. Es gab nur fünf oder sechs Modelle, und eines schien mir hübscher als der Rest. Ich weiß noch genau, wie es aussah, ein frisches helles Weiß mit blauen Punkten und Trägern aus blauem Satin und kleinen Schleifen an der Stelle, wo die Träger auf die Körbchen trafen. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, hielt ich mir den BH vor die Brust.
Auf dem Preisschild stand $ 8,99. Ich hatte den Zehndollarschein meines Großvaters in meiner Sporttasche.
Als mein Vater am Fußballplatz hielt, saß ich wie üblich auf dem Bordstein, auf dem Schoß die Tasche, in deren Tiefen der BH glühte. Die anderen Mädchen aus meiner Mannschaft liefen jetzt erst Richtung Parkplatz los, kleine Gestalten in der Ferne, die stehen blieben, um ihre Beine zu dehnen oder die Pferdeschwänze stramm zu ziehen, verschwitzt von den Übungen, die ich verpasst hatte.
Eilig stieg ich ins Auto.
»Wie war das Training?«, fragte mein Vater.
Ich nahm große Schlucke aus meiner Wasserflasche. Lügen war, wie Algebra, eine erst neu erlernte Fertigkeit.
»Gut.«
»Was habt ihr gemacht?«
Ich hatte Angst, er wüsste Bescheid.
»Wir machen immer dasselbe, Papa«, sagte ich. »Deshalb ist es ja so langweilig.«
Und das Erstaunlichste daran war: Er glaubte mir.
Sobald wir zu Hause waren, schloss ich mich im Badezimmer ein. Ich hatte ein kribbelndes Gefühl, dass endlich etwas für mich beginnen, dass dies ein Anfang sein könnte. All meine Sorgen – all die wichtigeren Dinge – spürte ich rasch von mir fort gleiten. Ich sah schon vor mir, wie der Träger auf meiner Schulter wirken würde, wenn er aus meinem T-Shirt herausblitzte, wie es in der Schule bei Michaela immer geschah.
Aber als ich ihn, nach minutenlangem Kampf mit dem Verschluss, anhatte, stellte ich fest, dass zwischen dem Geschäft und zu Hause eine furchtbare Verwandlung stattgefunden hatte: Ich hatte einen billigen und mädchenhaften BH mitgebracht. Die Satinbänder waren zu blau und zu glänzend. Eine der Nähte löste sich bereits. Noch schlimmer war, wie unsexy sich die Körbchen auf meiner Brust wellten, wie zwei leere Wasserballons, die noch gefüllt werden mussten.
Ich hörte die Schritte meiner Mutter auf der Treppe.
»Was machst du da drin?«, fragte sie durch die Tür.
Allein schon ihre Nähe im Flur machte mich nervös.
»Nichts.«
»Ist dir schlecht?« Sie machte sich inzwischen Sorgen, ich könnte ebenfalls das Syndrom bekommen. »Dein Vater sagt, du bist schon fast eine halbe Stunde da drin.«
Ich konnte spüren, dass sie die Tür aufmachen wollte. Ich konnte spüren, dass sie die Hand zur Klinke ausstreckte. Hastig hakte ich den BH auf und schlüpfte in mein T-Shirt.
»Mir geht’s gut«, rief ich. »Ich komme gleich.«
Später, als sie schlief und mein
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