Ein Jahr voller Wunder
Passagiere winkten uns aus den Körben zu, während sie über unser Dach trieben. Es waren fünfundzwanzig Grad. Man wäre bei diesem Anblick nie auf die Idee gekommen, dass sechs Astronauten weiterhin mit schwindenden Lebensmittelvorräten auf der Weltraumstation festsaßen, dreihundert Kilometer über der Seide dieser Ballons. In diesem speziellen Augenblick kam es uns auch nicht so vor, als säßen wir fest.
Ich war in der Küche, als das Telefon klingelte. Mein Vater war oben. Meine Mutter wandte bei dem Geräusch zwar den Kopf zum Haus um, blieb aber sitzen. Zufällig nahm ich den Hörer in der Küche ab, unmittelbar nachdem mein Vater oben abgehoben hatte.
»Joel?«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Hier ist Ben Harvey vom St. Anthony’s.«
Ich legte die Handfläche über die Muschel und lauschte.
»Und?«, fragte mein Vater.
Mit angehaltenem Atem stand ich regungslos da, barfuß auf den Fliesen.
»Es ist nicht das, was du hören möchtest«, sagte der andere Mann.
Er zögerte. Ich holte kurz Luft.
»Er war schon tot, als er ankam«, sagte der Mann.
Mein Vater seufzte schwer.
»Schädelfraktur, Wirbelbrüche, Subduralhämatom. Offenbar war er auf der Durchreise oder so was. Es gibt keine Verwandten.«
Ich kann nicht erklären, warum wir immer noch glaubten, der Fußgänger könnte irgendwie überlebt haben. Meine Mutter und ich hatten ihn doch beide draußen auf der Straße gesehen, leblos, schon seine Körperhaltung war die eines Toten gewesen; Lebende liegen nicht so. Und doch hatten wir tatsächlich weiterhin gehofft.
Ich hörte nicht, was sonst noch am Telefon gesagt wurde. Ich lehnte mich einfach nur an die Küchenarbeitsfläche, mir war nicht gut. Als das Gespräch vorbei war, legte ich so leise wie möglich auf, und dann hörte ich meinen Vater die Treppe herunterkommen.
Draußen auf der Terrasse blätterte meine Mutter in ihrer Zeitschrift und nippte am Eistee. Ich wollte nicht dabei sein, wenn er es ihr erzählte.
Ich lief zu Gabby, aber dort war niemand zu Hause. Also saß ich eine Weile allein auf unserer Veranda und beobachtete die dicken weißen Wolken, die über meinem Kopf Richtung Osten trieben. Es war ungefähr die Zeit, zu der Seth manchmal seine Klavierstunde bei Sylvia hatte, und ich dachte, er wäre vielleicht da. Ich lauschte auf Klaviergeräusche, hörte aber nichts.
Am Ende der Straße versperrte ein riesiger Umzugswagen die Einfahrt der Kaplans. Eine Matratze lehnte hochkant an der Haustür, und die Familienkatze miaute in ihrer Transportbox auf der Veranda.
Das »Zu Verkaufen«-Schild war drei Tage nach der durchgeschnittenen Stromleitung vor dem Haus der Kaplans aufgetaucht. Jetzt spielten die beiden Jüngsten mit den Kartons im Garten, während zwei Möbelpacker und Mr Kaplan ein langes braunes Sofa in den LKW schoben. Ich konnte schwach ihre Stimmen hören, die Diskussionen von Männern, von der Brise zu mir getragen.
Sie zogen in eine der Kolonien, eine, in der alle Juden und sich über den Sabbat einig waren: Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang an jedem siebten Tag. Ihre Wochen stimmten natürlich mittlerweile mit unseren überhaupt nicht mehr überein, ihre Samstage fielen nicht mehr auf unsere. In einer weißen Nacht, als ich nicht schlafen konnte, hatte ich es ausgerechnet: Die Echtzeiter waren uns zu diesem Zeitpunkt dutzende von Tagen hinterher – und diese Tage würden sich letztendlich zu Jahren anstauen.
Auf der anderen Straßenseite ertönte das Klicken und Quietschen einer sich öffnenden Tür. Ich sah auf: Es war nicht Seth. Es war nur Sylvia, in Sonnenhut und Clogs, eine Schaufel in der Hand.
Sie winkte.
»Schöner Tag heute«, rief sie mir aus ihrem Garten zu. Sie fragte mich, wie es mir gehe.
»Gut«, sagte ich.
Sie tat mir nicht mehr leid. Jetzt machte sie mich einfach nur nervös, als wäre ich diejenige, die etwas zu verbergen hatte.
Sie kniete sich neben ihre Rosen, die in den letzten Wochen zu welken begonnen hatten. Sylvia hingegen schien aufzublühen. Die meisten von uns liefen mit schläfrigen Augen und trägem Verstand herum – meine Mutter behauptete, seit Monaten nicht geträumt zu haben –, aber Sylvia wirkte ausgeruht und entspannt und wach. Es war schwer zu übersehen, dass sie schön war, so viel schöner in jenen Tagen als meine Mutter. Allmählich hoffte ich, Sylvia würde fortziehen wie die Kaplans und so viele andere Echtzeiter damals.
Oder vielleicht wünschte ich, wir würden weit weggehen. Ich dachte über die
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