Ein Jahr voller Wunder
als ihre Verwandten im Freien.
»Meinst du das wirklich ernst?«, fragte ich.
»Ich hätte es dir wohl besser nicht erzählt«, sagte sie. »Du bist viel zu brav, um das zu verstehen.«
»Warte.«
Gabby machte die Haustür auf und trat halb auf die Veranda.
»Keith hat ganz Recht«, sagte sie. »Hier sind doch alle im Halbschlaf. Die Uhrenzeit ist nur ein weiterer Trick der Gesellschaft, um uns zu betäuben.«
Die Sonne war hinter den Hügel gesunken. Der Himmel war rosa. Sonnenuntergänge waren dort, wo wir wohnten, schon immer schön gewesen, aber an diesen Tagen wirkten sie noch dramatischer, besonders da sie doppelt so selten waren.
»Bitte erzähl keinem was«, sagte sie.
Jeder, der Gabby so kannte wie ich, wäre davon ausgegangen, dass sie nicht wirklich wegliefe. Der Plan, falls es einen gab, würde sich sehr wahrscheinlich zerschlagen. Irgendetwas würde sich verändern: Ihre Absichten wechselten schnell, ihre Laune noch schneller. Ich war mir ziemlich sicher, dass Gabby am nächsten Tag wie üblich von der Schule nach Hause käme. Sie würde in ihrem eigenen Bett schlafen und sofort den nächsten abwegigen Fluchtplan schmieden.
Sie umarmte mich kurz und verabschiedete sich. Ich ging zurück an meine Hausaufgabe.
Ich weiß noch, wie die Kurzgeschichte von Bradbury endete: An dem Tag, als auf der Venus endlich die Sonne scheint, nach sieben Jahren Abwesenheit, überredet ein Junge die anderen Kinder, ein kleines Mädchen in einen Schrank zu sperren. Sobald die Sonne auftaucht, rennen die anderen Kinder nach draußen, um ihre Strahlen zum ersten Mal im Leben auf dem Gesicht zu spüren. Sie scheint nur eine Stunde lang. Das Mädchen bleibt im Schrank gefangen. Bis sich jemand an sie da drin erinnert, ist die Sonne wieder hinter den Wolken verschwunden, wo sie die nächsten sieben Jahre bleibt.
Es war noch dunkel, als ich am nächsten Tag aus der Schule kam. Sonnenaufgang wäre erst in einigen Stunden. Ich ging sofort zu Gabby, und als ich an Tom und Carlottas Einfahrt vorbeikam, überlief mich ein Schauer. Sie wohnten immer noch dort, aber es brannte natürlich kein Licht; für sie war es mitten in der Nacht. Wenige Monate später wurden sie beide zu einer Strafe verurteilt und mussten das Haus verkaufen, um die Anwaltskosten zu bezahlen.
Als ich vor Gabbys Einfahrt ankam, sah ich, dass es bei ihr auch dunkel war. Das Verandalicht brannte einsam.
Ich klingelte. Niemand kam. Ich klingelte noch einmal.
Durch das Küchenfenster glänzte eine Reihe nagelneuer Edelstahlgeräte im Mondlicht.
Ich war mit Geschichten über die speziellen Gefahren aufgewachsen, die Mädchen drohten. Ich wusste, wo die Leichen gefunden wurden: nackt an Stränden oder zerstückelt, die Einzelteile in Gefriertruhen eingefroren oder in Zement versenkt. Diese Geschehnisse wurden vor uns Mädchen nie geheim gehalten. Vielmehr wurden sie verbreitet wie Spukgeschichten, da unsere Eltern hofften, die Angst würde uns besser schützen als unser Urteilsvermögen.
Nun sah ich Gabbys Situation in ebendiesem Licht: Eine Zwölfjährige war mit einem Mann durchgebrannt, den sie drei Wochen vorher im Internet kennengelernt hatte. Er behauptete, sechzehn zu sein, aber wer wusste das schon. Angeblich lebte er in einer der Tageslichtkolonien, aber ich kannte nicht einmal seinen Nachnamen. Solche Geschichten nahmen normalerweise kein gutes Ende, und seit dem Beginn der Verlangsamung waren sie nur noch häufiger geworden. Die Raten jeder Art von Gewaltverbrechen stiegen an, die Gründe dafür waren zum Teil physiologisch. Schlaflosigkeit erzeugte eine Form von Verzweiflung, vermute ich. Es war schwieriger geworden, Impulsen zu widerstehen.
Die Beunruhigung entstand in meinem Bauch, eine Verkrampfung, die sich über meine Brust in die Schultern ausbreitete, bis sie meinen Nacken erreichte. Den gesamten Nachmittag schwelte die Sorge, und ich war überrascht, dass meine Eltern sie mir nicht im Gesicht ansahen.
An jenem Abend sprach meine Mutter meinen Geburtstag an.
»Wir müssen doch irgendwas machen«, sagte sie. »Warum veranstalten wir keine Party?«
Aber ich wollte keine Party. Ich wusste nicht, wen ich einladen sollte. Meine Mutter konnte nicht ahnen, dass ich all meine Mittagspausen damit verbrachte, so zu tun, als telefonierte ich. Der Wandel war so schnell passiert, wie verrutschender Treibsand. Und jetzt war auch Gabby fort.
»In Zeiten wie diesen«, sagte meine Mutter, »ist es noch wichtiger, die schönen Dinge zu
Weitere Kostenlose Bücher