Ein Jahr voller Wunder
bessere Reviere, nur um auf dem Beton unserer Einfahrt von der Sonne geröstet und im Anschluss von den Rädern unserer Autos platt gefahren zu werden.
Auch unser Jelängerjelieber verwelkte. Die Bougainvillea brachte keine Blüten mehr hervor.
Überall in Amerika verdrängten gigantische Gewächshäuser die Freilandfelder unserer Bauernhöfe. Hektar um Hektar wurde überglast. Unzählige Natriumdampflampen versorgten unsere Tomatenpflanzen und Orangenbäume, unsere Erdbeeren und Kartoffeln und unseren Mais mit Licht.
»Die Entwicklungsländer wird es am schlimmsten treffen«, sagte der Präsident des Roten Kreuzes in einer der morgendlichen Sendungen. Hungersnöte wurden für Afrika und Teile Asiens prognostiziert. »Diesen Ländern mangelt es schlicht an den finanziellen Mitteln, um sich umzustellen.«
Aber selbst für uns waren die Lösungen nur vorläufig. Die industrielle Landwirtschaft verschlang irrsinnige Mengen an Strom. Die zwanzigtausend Lampen an der Decke eines einzigen Gewächshauses fraßen in einer halben Stunde so viel Energie wie die meisten Familien im ganzen Jahr verbrauchten. Viehweiden wurden schnell zu teuer im Unterhalt – Rindfleisch würde bald schon zur Delikatesse.
»Wir müssen genau den entgegengesetzten Weg gehen«, sagte der Leiter einer großen Umweltgruppe im Interview in den Abendnachrichten. »Unsere Abhängigkeit von Pflanzen, die so viel Licht brauchen, muss gedrosselt statt verlängert werden.«
Bananen und andere tropische Früchte waren bereits aus den Läden verschwunden. Bananen! Wie seltsam ein Wort klingen kann, wenn man es seit Ewigkeiten nicht mehr laut ausgesprochen gehört hat.
Wissenschaftler suchten fieberhaft nach Abhilfe. Hoffnung lag in der Gentechnik. Es war von einem Wunderreis die Rede. Manche Forscher richteten ihr Augenmerk auf die moosigen Böden von Regenwäldern und die sonnenlosen Tiefen der Meere, wo bestimmte Pflanzen seit langem bei sehr wenig Licht überlebten; sie hofften, die Gene dieser robusten Spezies in die der Weltnahrungsmittel einzubauen.
Manchmal waren wir beunruhigt, manchmal nicht. Angst spülte in Wellen über uns hinweg. Die nationale Stimmungslage war ansteckend und schnell veränderlich. Aber jede schlechte Nachricht löste Anstürme auf Konserven und Flaschenwasser aus. Die Notvorräte meiner Mutter wuchsen weiter an. Manchmal fand ich Kerzen im Garderobenschrank, kistenweise Dosenthunfisch in der Garage. Fünfzig Gläser Erdnussbutter standen aufgereiht unter dem Bett meiner Eltern.
Immer noch setzte sich die Verlangsamung fort. Die Tage dehnten sich. Eine nach der anderen tröpfelten die Minuten herein – und selbst ein Rinnsal kann sich, wie wir inzwischen begriffen haben, letzten Endes zu einer Flut anstauen.
22
A ber keine Kraft der Erde konnte den Vormarsch der sechsten Klasse bremsen. Und so war, trotz allem, jenes Jahr auch das Jahr der Tanzparty.
Wann immer der Geburtstag eines meiner Klassenkameraden nahte, wurden Einladungen an eine Liste ausgewählter Jungen und Mädchen gemailt. Vorbei die Tage eingeschlechtlicher Partys. Jetzt wurden DJs verpflichtet und Tanzflächen angemietet. Stroboskoplampen und Diskokugeln wurden an Kellerdecken oder Gartenzäunen aufgehängt oder, im Fall von Amanda Cohen, an den Dachbalken eines ausladenden Hotelballsaals. Michaela beschrieb mir diese Festivitäten dann, während wir morgens auf den Schulbus warteten. Aber manchmal musste man mir nichts erzählen: An einem speziellen Montag erschienen all die hübschesten Mädchen in den gleichen eng anliegenden rosa Sweatjacken in der Schule, auf deren Rücken Justine Valeros Name und Geburtstag in Strasssteinen stand, ein Gastgeschenk der Party des vorangegangenen Samstags.
Ich weiß, dass es als besonderes Glück galt, wenn ein Geburtstag auf einen dunklen Abend fiel, da die Romantik durch Mondlicht und Sterne beträchtlich gesteigert wurde. Aber über den genauen Ablauf dieser Ereignisse könnte ich nichts sagen. Ich war nie eingeladen.
»Justine hat bestimmt nur vergessen, dich einzuladen«, sagte Michaela. Nagelneue Ponyfransen federten unmittelbar über ihren Augenlidern. »Wahrscheinlich hat sie es einfach vergessen.«
Hanna lehnte in der Nähe in einem mintgrünen Pulli und mit einem blonden geflochtenen Zopf am Zaun. Sie lachte in ihr Handy. Wir hatten seit Wochen nicht miteinander gesprochen.
»Außerdem«, fügte Michaela hinzu, »hätte es dir sowieso nicht gefallen. Du bist zu schüchtern. Ich wette, du würdest nur
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