Ein Jahr voller Wunder
Vater in der Klinik war, vergrub ich den BH tief in einer der Mülltonnen im Garten, damit niemand je entdecken würde, wie wenig ich begriff, was für die anderen Mädchen, die ich kannte, so selbstverständlich zu sein schien.
20
F ebruar: Die dunklen Stunden waren irgendwie dunkler als früher und die hellen strahlender als je zuvor. Die Hitze war so extrem, dass man sie sehen konnte, sie stieg in Wellen vom Asphalt auf. Das Schlafen fiel mir schwerer und schwerer.
Die Krankheit meiner Mutter schwankte wild. An manchen Tagen ging es ihr gut: Sie ging arbeiten, machte Besorgungen, kochte Abendessen. Dann wieder verloren wir sie an die Gewalt eines neuen Symptoms. Einmal, als ich von der Schule nach Hause kam, hatte sie sich in drei Decken gewickelt und zitterte trotzdem noch, ihre Zähne klapperten buchstäblich. Es war die achtzehnte Stunde Tageslicht, dreißig Grad im Schatten.
»Keine Sorge«, sagte sie bibbernd. »Das geht vorbei.«
Aber ich machte mir Sorgen. Ich beobachtete sie, wann immer ich konnte.
Damals vermuteten manche, das Syndrom wäre psychologischer Natur, die Beschwerden würden nicht von einer Veränderung der Schwerkraft verursacht, sondern von einer noch stärkeren Kraft: Angst.
»Vielleicht ist es einfach Beklemmung«, sagte mein Vater, als er an diesem Abend von der Arbeit kam.
Meine Mutter holte tief Luft.
»Du glaubst, ich bilde mir das nur ein?«
»Das habe ich nicht gesagt, Helen.«
Mein Vater schob eine Tiefkühlpizza in die Mikrowelle. Wenn meine Mutter krank war, tat er, was zu tun war. Aber ich spürte, dass er in dieser Zeit etwas Hohles an sich hatte, dass sein Kopf und seine Seele woanders waren, selbst während seine Hände mir ein Glas Milch eingossen, selbst während sein Mund die passenden Worte sprach: Wie war’s in der Schule? Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?
»Ich meine ja nur«, fuhr er jetzt fort, »du stehst stark unter Stress.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Das ist echt.«
»Ja, Papa«, sagte ich. »Es ist echt.« In dieser Zeit ergriff ich immer die Partei meiner Mutter.
Aber insgeheim gefiel mir diese Theorie. An Sorgen stirbt man nicht.
Am nächsten Abend hörten wir von dem ersten Hoffnungsschimmer seit Monaten: Wir hatten am Vortag nur sechs Minuten hinzugewonnen, weniger als je zuvor seit dem Beginn der Verlangsamung.
»Das ist gut«, meinte ich. Meine Eltern schwiegen. »Oder?«
»Es könnte zu spät sein«, sagte meine Mutter. Ihre Haare waren strähnig. Mir fiel auf, dass sie sie schon einige Zeit nicht mehr gewaschen hatte.
»Helen, jetzt komm schon«, sagte mein Vater. Dann sah er mich an. »Natürlich ist das eine gute Nachricht.«
Eine kalte Brise rüttelte hinter uns an den Jalousien.
»Verdrängung bringt auch nichts«, sagte meine Mutter.
Aber ich war mir nicht sicher, ob mein Vater dem unbedingt zustimmte. Er hatte andere Vorstellungen von Wahrheit.
»Es ist eine gute Nachricht«, wiederholte mein Vater. Er stand auf und drückte mir die Schulter.
Meine Mutter schaltete den Fernseher aus.
»Du kannst genauso gut die Wahrheit erfahren, Julia«, sagte sie. »Alles geht vor die Hunde.«
Es folgten angespannte Tage. Meine Eltern sprachen immer weniger miteinander. Nach stundenlangem Spionieren mit meinem Teleskop erwischte ich schließlich meinen Vater wieder bei Sylvia. Dieses Mal war es Morgen, nachdem er sich zur Arbeit verabschiedet hatte und während meine Mutter auf der Couch döste. Er war im Auto weggefahren, kam aber zu Fuß zurück. Immer wieder drehte er sich zu unserem Haus um, einmal, zweimal, und noch einmal, ehe er durch das Seitentor in Sylvias Garten verschwand. Ich hatte wenig Ahnung, wie solche Dramen abliefen. Meine Angst wuchs, dass mein Vater uns eines Tages ganz verlassen würde.
Und dann eines Abends erzählte mein Vater eine neue Lüge. Das war nicht die erste Lüge, die ich von ihm hörte, und es würde nicht die letzte bleiben. Es war nur die beherzteste und beste. Einfach und lapidar. Ein eleganter, haarsträubender Schwindel. Ein einzelner unwahrer Satz.
Es passierte an einem Samstag, einem Tageslichttag: Die Sonne ging morgens auf und schien den ganzen Nachmittag. Eine salzige Brise raschelte in den Eukalyptusbäumen, während die Zwillinge im Pool der Nachbarn planschten. Meine Mutter fühlte sich besser als normalerweise und las im Garten eine Zeitschrift, neben sich ein schwitzendes Glas Eistee, als ein Geschwader Heißluftballons durch den Himmel schwebte. Die
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