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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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in der Ecke stehen.«
    »Stimmt nicht«, sagte ich. »Ich würde tanzen.«
    Mein eigener Geburtstag war schon in ein paar Wochen. Es gäbe keine Party. Es würde nicht getanzt.
    »Du würdest tanzen?«, fragte Michaela. »Echt?«
    Es war dunkel an diesem Morgen, die Luft feucht vom unter den Straßenlaternen schimmernden Nebel, der über den Rand des Canyons quoll, wo, wie überall, etliche heimische Pflanzenarten langsam an Lichtmangel starben.
    »Ich hab am Samstag ungefähr eine Stunde mit Seth Moreno getanzt«, fuhr Michaela fort. »Das war heftig.«
    Seths Name flackerte in meinem Kopf auf.
    »Er war auch da?«, fragte ich.
    »Von nahem ist er superheiß.« Sie bibberte in ihrem Minirock. »Ich hab sein Ding gespürt.«
    Genau in dem Moment kam Seth auf dem Skateboard an der Bushaltestelle an, und Michaela verstummte.
    Unsere Schule hatte seit dem Beginn der Verlangsamung ein Viertel ihrer Schülerschaft verloren, aber fünfhundertzweiundvierzig von uns waren noch übrig. Jeden Morgen vor dem ersten Gong riefen fünfhundertzweiundvierzig Stimmen einander aus fünfhundertzweiundvierzig Kehlen zu. Fünfhundertzweiundvierzig Münder kämpften um Gehör, der Lärm steigerte sich mit jeder Ladung, die die Busse vor dem Schulhof absetzten. Gerüchte wogten von Gruppe zu Gruppe – es gab Cliquen innerhalb von Cliquen innerhalb von Cliquen. Unentwegt brach lautes Gelächter aus. Fünfhundertzweiundvierzig Stimmen prallten vom Außenputz der Mauern ab, begleitet vom Klingeln von fünfhundertzweiundvierzig Handys. Ständig war jemand geschockt von etwas, was er gerade gehört hatte. Immer schrie jemand. An der Stelle, an der ich in letzter Zeit stand, am äußeren Rand der Menge, schienen die Geräusche so bedeutungslos, als sprächen all diese Zungen fremde Sprachen, ein großes, unverständliches Geplapper.
    In dieser Umgebung war Schweigen tödlich. Reden war das einzig Wahre. Es zahlte sich nicht aus, von der stillen Sorte zu sein.
    Jeden Schultag freute ich mich auf die sanfte Landung am Nachmittag, auf das Schnappen meines Schlüssels im Schloss unserer Tür, die Ruhe des leeren Hauses. Meine Mutter versuchte, weiter zur Arbeit zu gehen, und deshalb war sie nachmittags meistens nicht da – oder sie schlief oben.
    An einem dieser Tage las ich gerade, als ich ein lautes Klopfen an der Tür hörte.
    Im Englischunterricht nahmen wir Ray Bradbury durch, die Hausaufgabe an diesem Tag war eine Kurzgeschichte über eine Gruppe von Menschenkindern, die auf der Venus lebten, wo, der Erzählung zufolge, die Sonne nur alle sieben Jahre durch die dichte Wolkendecke brach – und dann lediglich für eine Stunde.
    Es klingelte zweimal, ehe ich an der Tür war. Draußen stand Gabby, noch in ihrer Uniform von St. Mary’s: grüner Karorock und weißes Polohemd, einen dunkelblauen Pulli um die Taille gebunden.
    Ich machte auf.
    »Deine Eltern sind doch nicht zu Hause, oder?«, fragte sie. Sie rieb sich die Hände und sah sich immer wieder zur Straße um. Ihre Haare waren etwas nachgewachsen, aber nicht viel. Brauner Flaum bedeckte ihre Kopfhaut.
    »Sie sind noch in der Arbeit«, sagte ich.
    Sie kam ins Haus und bedeutete mir, die Tür zu schließen.
    »Ich muss meine E-Mails auf deinem Computer checken«, sagte sie leise, als könnte das Haus verwanzt sein.
    Seit Wochen, erzählte sie, sei sie vom Internet abgeschnitten, und ihr Handy sei immer noch in einer Schreibtischschublade ihrer Mutter eingeschlossen. Während dieser zwei Wochen hatte sie kaum Kontakt zu dem Jungen in Circadia gehabt, aber natürlich waren das genau die Bedingungen, unter denen Liebe am besten gedeiht.
    Sobald sie am Computer saß, legte sie los. Das Klappern von Fingernägeln auf Tasten, ein paar Mausklicks. Dann stand sie auf.
    »Wir werden uns wahrscheinlich eine Zeitlang nicht sehen«, sagte sie.
    »Warum nicht?«
    »Ich hau hier ab. Morgen holt Keith mich von der Schule ab, und ich zieh zu ihm nach Circadia.«
    Sie drohte nicht zum ersten Mal damit, wegzulaufen. Gabby hatte immer Pläne und Träume. Aber ich wusste, dass sie es nie durchgezogen hatte.
    »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte ich.
    »Sag ihnen bloß nichts.«
    »Die werden ausflippen.«
    Sie lief in unserem Flur auf und ab. Ihre von der Schule ausgegebenen Collegeschuhe quietschten bei jedem Schritt.
    »Hier ist doch sowieso alles Scheiße«, sagte sie.
    Sie wedelte weit ausholend mit der Hand. Neben ihr verkümmerte unser Ficus in seinem Topf. Zimmerpflanzen waren noch schlechter dran

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