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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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feiern.«
    Schließlich willigte ich in ein Abendessen ein.
    »Aber nur wir und Opa«, sagte ich.
    »Laden wir doch wenigstens Hanna ein«, meinte meine Mutter. »Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen.«
    »Nein. Hanna lade ich nicht ein.«
    Gegen Abend war mein ganzer Körper heiß vor Schuldgefühlen wegen Gabby. Die Gewissensbisse schienen von meiner Haut auszuströmen, wie Pheromone oder Rauch oder sonst ein chemisches Signal mit der Kraft, Gabbys Mutter auf unsere Veranda zu locken, wo sie schließlich um kurz nach acht eintraf, um uns zu fragen, ob wir ihre Tochter gesehen hätten.
    Meine Mutter machte eine bedauernde Miene. »Leider nicht. Haben Sie es schon bei ihren anderen Freundinnen probiert?«
    Gabbys Mutter sah mich direkt an. Sie trug ein Kostüm und hohe Schuhe. Lipliner umrandete ihren Mund noch vom Arbeitstag, aber der Lippenstift war verblasst.
    »Bitte verraten Sie ihr nicht, dass ich es Ihnen erzählt habe«, sagte ich.
    »Du weißt, wo sie ist?«, fragte meine Mutter.
    »Ich glaube, sie ist nach Circadia gefahren.« Ich machte eine Pause. »Mit einem Jungen.«
    »Was zum Teufel ist Circadia?«, fragte Gabbys Mutter.
    Sie trug Kontaktlinsen, die aber ihre Augen austrockneten. Sie blinzelte ständig, und in dem Moment blinzelte sie sogar noch mehr, weil Tränen in ihre dunklen Augen strömten.
    »Sie wissen schon«, sagte ich. »Eine der Tageslichtkolonien.«
    Gabbys Mutter rief die Polizei an. Sie und Gabbys Vater fuhren sofort hinaus in die Wüste, klopften die ganze Nacht an Türen, während die Sonne am Himmel brannte – es war Tag in Circadia. Alle waren wach.
    Gegen Morgen wurde Gabby Wein trinkend auf einem Grillfest mit Keith gefunden, einem älteren Ausreißer aus einem anderen Teil des Staates. Sie verbrachte nur eine Nacht in Circadia.
    Danach war sie nie wieder dieselbe. Zu Hause in unserer Straße lag sie herum, apathisch und enttäuscht, eine Reisende, die zur Rückkehr aus einem exotischen und erhellenden Land gezwungen worden war.
    »Hast du meiner Mutter gesagt, wo ich bin?«, fragte sie.
    »Nein.«
    Skeptisch verdrehte sie den Kopf in meine Richtung. »Echt nicht?«
    »Ich schwöre«, sagte ich.
    »Irgendwann geh ich wieder zurück«, sagte sie. Etwas Wissendes klang neuerdings in ihrer Stimme mit. »Es ist schwer zu erklären, aber Circadia ist wie einer dieser Orte, du weißt schon, wie nennt man das? Ein Utopia? Alle sind total locker. Und sie behandeln dich wie einen Erwachsenen. Niemand interessiert sich dafür, wie du aussiehst oder was du anhast.«
    Die Geschichte Circadias war kurz, und ich erfuhr sie erst später. Es lag über hundertfünfzig Kilometer von allem anderen entfernt, und seine Betonfundamente wurden ein Jahr vor der Verlangsamung gegossen, von einem Bauunternehmer, der davon träumte, dass der Wildwuchs der kalifornischen Küstenstädte schon bald in diesen Wüstenabschnitt vordringen würde. Aber sechs Monate später machte der Bauunternehmer Bankrott. Die Bauarbeiten wurden abgebrochen. Monatelang standen die Häuser halbfertig und leer – bis eine Gruppe überzeugter Echtzeiter das Land mit allen Gebäuden darauf kaufte und nach ihrer eigenen inneren Uhr, ihrem zirkadianen Rhythmus, benannte.
    Gabby beschrieb ein goldenes Land, ein Umkehrbild dessen, in dem wir lebten. Die Zeit fließe wirklich anders, beharrte sie. Jede Stunde sei ihr wie ein Tag vorgekommen. Herzen machten weniger Schläge pro Minute. Menschen atmeten tiefere Atemzüge. Wut brauche ewig, um auszubrechen. Sie würden länger leben, beteuerte Gabby. Und alles dauerte an: ein gutes Essen, ein Ausbruch von Gelächter, der Blick in Keiths Augen, nachdem sie sich zum ersten Mal geküsst hatten.
    »So zu leben, verändert Menschen«, sagte sie. »Sie sind so viel besser als die Leute hier.«
    Im Circadia aus Gabbys Erzählungen bildeten die Bewohner eine neue Welle sanfter Pioniere, hart arbeitend, aber gut ausgeruht – sie schliefen vierundzwanzig Stunden am Stück und blieben danach genauso lange oder noch länger wach, ohne müde zu werden. Für uns Außenstehende klang es unmöglich, aber die Wissenschaft bestätigte es bereits: Menschliche Biorhythmen erwiesen sich als weitaus anpassungsfähiger, als man früher geglaubt hatte.
    Gabbys Erinnerungen an Circadia blieben mir im Gedächtnis. Mir gefiel die Vorstellung, an einen weit entfernten Ort zu ziehen. Manchmal in weißen Nächten, wenn das Sonnenlicht unter meinen Vorhängen hindurchkroch, versuchte ich mich zu erinnern, wie es

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