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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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gewesen war, im Einklang mit der Sonne zu schlafen. Wie seltsam und friedlich es klang, jede Nacht im Dunklen zu träumen. Und wie still diese dichte Wüstenfinsternis gewesen sein musste, wenn das Land nur von den Sternen beleuchtet wurde. Keine Schnellstraßen rauschten dort. Keine Stromleitungen summten. Vielleicht hatte ich eine solche Stille überhaupt noch nie gehört. Nicht einmal das Ticken der Uhren konnte einen wecken – weil in Circadia niemand Uhren hatte.
    Sobald Gabbys Haare wieder lang genug gewachsen waren, um als freche Kurzhaarfrisur durchzugehen, wurde sie auf ein hundertfünfzig Kilometer entferntes Internat geschickt. Sie war die letzte Freundin, die ich noch hatte, und einfach so – war sie weg.

23
    B ei der großen Umsortierung der Schicksale und Lebensläufe, die auf die Verlangsamung folgte, hatten die meisten von uns verloren. Der Großteil von uns war schlechter dran als vorher. Manche wurden krank, manche depressiv. Sehr viele Ehen zerbrachen unter dem Stress. Milliarden von Dollars waren aus den Märkten abgeflossen. Und wir vermissten auch noch andere Werte: unsere Lebensweise, unseren Seelenfrieden, unseren Glauben.
    Aber nicht jeder litt. Ein paar wenige Glückliche hatten profitiert. Michaela und ihre Mutter gehörten dazu.
    Michaela hatte das Schuljahr sechs Monate zuvor in einer Mietwohnung mit Blick auf einen Parkplatz am äußeren Rand des Ortsteils begonnen. An der Außenseite der Wohnanlage klebte eine verrostete schwarze Treppe, und ein Klopfen an Nummer 2B löste ein Rasseln der Sicherheitskette aus, wenn Michaela sie von innen aushakte.
    Doch im Februar konnte ein Besucher nur an Michaelas Haustür gelangen, indem er einem Wachmann in einem Wachhäuschen draußen seinen Ausweis zeigte. Der Wachmann musste im Haus die Genehmigung einholen, ehe er das elektrische Tor öffnete. Ihre Mutter hatte einen reichen neuen Freund, und Michaela war mit ihr zu ihm gezogen.
    Ich war erschrocken, an jenem Samstag dorthin eingeladen zu werden. Seit Monaten hatte mich niemand irgendwohin eingeladen.
    »Und bring einen Badeanzug mit«, hatte Michaela am Telefon gesagt. »Hinten gibt es einen Pool und einen Jacuzzi.«
    Nachdem wir das Tor passiert hatten, fuhren mein Vater und ich schweigend an einem Dutzend großer Häuser vorbei, die alle von der Straße zurückgesetzt lagen und von Springbrunnen und Teichen geziert wurden. Ställe und Tennisplätze breiteten sich in alle Richtungen aus.
    »Jetzt sieh dir das an«, sagte mein Vater. »Was ist das für einer, den sie da geheiratet hat?«
    Meine Mutter war zu Hause, es ging ihr nicht gut. Man konnte nie voraussagen, wann sich ein Nebel auf sie herabsenken würde.
    »Sie sind nicht verheiratet«, gab ich zurück. »Aber ich glaube, er hat irgendeine Firma gegründet.«
    Der Himmel glühte in einem eigenartigen Orange. Brände loderten im offenen Gelände weiter im Osten, und der Rauch war Richtung Küste geweht. Es war zwar eigentlich nicht die Jahreszeit für Buschfeuer, aber sie nährten sich von den Überresten toter und sterbender Pflanzen. Man konnte das Feuer in der Luft riechen. Man konnte es im sich trübenden Licht erkennen. Alles Weiße sah leicht bernsteinfarben aus.
    An der Adresse, die Michaela mir gegeben hatte, führte eine runde Einfahrt um einen riesigen Kunstrasen. Es sah beinahe echt aus, das Gras, keine zwei Halme waren genau gleich. Und es war aus etwas Weichem hergestellt, einem synthetischen Material, das die Füße täuschen sollte. Es roch auch echt. Manche der teureren Marken wurden mit diesem Duft geliefert, eine Mode, die wohl abflaute, denke ich mal, als wir uns immer weniger deutlich an den Geruch von echtem Gras erinnerten.
    Das Haus war ein weitläufiger Bungalow, der sich auf dem Grundstück ausstreckte wie ein Sonnenbadender neben einem Pool. Ein dicker Eisenklopfer hing an der Haustür. Michaela erschien im Eingang, ehe ich die Klingel drücken konnte. Sie trug schon Badesachen, ihr rosa Bikini war durch das weiße Top zu sehen. Rosa Schnüre baumelten an ihrem Hals herunter.
    »Komm rein«, sagte sie.
    Drinnen zog eine kleine Mexikanerin neben der Tür den Reißverschluss ihrer Handtasche zu. Die Luft roch süß. Etwas backte im Ofen.
    »Alma hat Kekse gemacht«, sagte Michaela.
    »Danke, Alma«, rief eine Stimme aus einem anderen Zimmer. Ich erkannte sie als die von Michaelas Mutter. »Bis morgen.«
    Eine nahezu endlose Straße von Terrakottafliesen führte uns schließlich in die in der Ferne gerade eben

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