Ein Jahr voller Wunder
nicht erlaubt, dort hinzugehen, wenn sie gewusst hätte, dass wir allein wären.
»Josh«, sagte Harry zu seinem Sohn, als sie gingen. »Du hast die Verantwortung.«
Das Klackern der Absätze von Michaelas Mutter entfernte sich rasch über den Flur, und bald hörten wir das Rattern des sich öffnenden und schließenden Garagentors, das Brummen und Verhallen des davonfahrenden Wagens.
»Ich hab keine Lust mehr auf Videospiele«, sagte Michaela. »Gehen wir in den Whirlpool.«
»Zuerst«, sagte Josh, »brauchen wir Bier.«
»Habt ihr Bier?«, fragte Kai.
Ich versuchte, den Anschein zu erwecken, als wäre Bier etwas Normales für mich.
»Die merken es, wenn wir welches nehmen«, wandte Michaela ein.
»Nicht, wenn wir es aus dem Schutzraum holen«, sagte Josh.
»Was ist das?«, fragte ich.
Josh sprang von der Couch und lief schnell durch den Flur. Wir folgten ihm. Er war älter – 13 –, ein großes, dünnes Kind, nur Arme und Beine. Vor einem hohen Spiegel, der in einem schweren Mahagonirahmen an der Wand hing, blieb er stehen. Er strich mit den Fingern über die Kante und zog dann. Der Spiegel hing an verborgenen Scharnieren; er schwang auf wie eine Tür. Und in der Wand dahinter lag eine zweite Tür, diese nun aus Metall.
»Das ist Stahl.« Josh tippte einen Code in eine Tastatur. Wir hörten das Aufschnappen der Schlösser. »Und es ist fünfzehn Zentimeter dick.«
Damals hatte ich so etwas noch nie gesehen.
Es war dunkel hinter der Tür. Ein Anknipsen des Lichtschalters enthüllte einen riesigen Raum mit Holzregalen, die alle von Vorräten überquollen: Dutzende Schachteln mit Kerzen, hunderte von Batteriepäckchen, kistenweise Obst in Dosen und Thunfisch in Dosen, Gemüse in Dosen, Saft in Dosen, Kondensmilch und Milchpulver und fünfundzwanzig Gläser Erdnussbutter. In einigen durchsichtigen Plastikeimern befanden sich Haferflocken, Getreidekörner und Reis. Ein Stapel flacher Silberpackungen glitzerte unter den Lampen.
»Gefriergetrocknete Fertigmahlzeiten«, sagte Josh.
Hunderte von Litern Flaschenwasser standen in Dreierreihen in einem Fach. Es gab eine Pyramide aus Klopapier. Auf einem großen grünen Behälter stand in fetten Buchstaben: Überlebens-Saatguttresor . Mehrere aufgerollte Schlafsäcke waren neben einem Kurbelradio und einem Gaskocher aufgestapelt. Kartons voller Verbände, Mullbinden, Seife und in Reihen angeordnete Tablettenfläschchen türmten sich über uns auf: Antibiotika, Vitamine, Jod.
»Ach du Scheiße«, sagte Kai.
Er betrachtete eine Vitrine an der gegenüberliegenden Wand, in der zwei Gewehre und sieben Messer in Scheiden hingen. Sechs Schachteln Kugeln waren unter den Waffen aufgeschichtet.
»Was ist das alles?«, fragte ich.
»Wonach sieht es denn aus?«, meinte Josh.
Er teilte Biere aus. Ich fasste meins mit zwei Fingern am Hals an. Ich wusste noch nicht mal, wie man die Flasche hielt.
»Sein Vater glaubt, die Welt geht unter«, sagte Michaela. »Deshalb hat er das ganze Zeug hier reingestellt.«
»Wir haben genug Essen für ein Jahr«, sagte Josh. »Und der Raum hier ist architektonisch unsichtbar, also merkt man gar nicht, dass es ihn gibt. So bricht niemand hier ein und klaut unsere Lebensmittel, wenn sie allen anderen ausgehen.«
Im Vergleich dazu waren die Vorräte, die meine Mutter angesammelt hatte, überhaupt nichts.
Der Schutzraum war nicht die einzige Besonderheit im Haus. Das ganze Gebäude war umgerüstet worden. Die Lampen in allen sechs Schlafzimmern waren mit ausgeklügelten, auf die Uhr eingestellten Dimmern ausgestattet, um den Effekt von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nachzuahmen. Topmoderne Verdunkelungsjalousien konnten das natürliche Licht in weißen Nächten zu einhundert Prozent abschirmen, und die Sonnenbank im Elternschlafzimmer lieferte an Tagen, an denen die Sonne überhaupt nicht über den Horizont rutschte, innerhalb von zwanzig Minuten einen ganzen Tagesbedarf Sonnenschein. Hinten im Poolhaus war ein voll funktionsfähiges Gewächshaus versteckt, in dem Karotten und Spinat wuchsen. Und ein Solargenerator stand bereit.
»Wartet es nur ab«, sagte Josh. »Eines Tages geht ihr in den Supermarkt, und alle Regale sind leer.«
Der Whirlpool war so heiß, dass es wehtat. Eine Zeitlang saßen wir auf dem Rand, ließen die Beine ins Wasser baumeln und gewöhnten uns an die Temperatur, bis wir uns schließlich einer nach dem anderen hineingleiten ließen. Michaela landete auf Kais Schoß. Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen,
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