Ein Jahr voller Wunder
stundenlang ungehindert brennen. Die Radionachrichten meldeten eine weitere merkwürdige Geschichte: Ein Erdbeben hatte das ländliche Kansas getroffen. Es war das erste seiner Stärke, das je dort gemessen wurde.
»Ich hatte einfach Lust, nach Hause zu kommen«, sagte ich.
24
Z wei Tage vor meinem zwölften Geburtstag wurde eine Gruppe von Walen an unserer Küste angeschwemmt. Anwohner wachten eines Morgens auf und entdeckten die Tiere zusammengesackt im Sand, sich schwach windend, als die Ebbe sich ohne sie zurückzog. Zehn Meeresgeschöpfe: auf der Erde gestrandet.
Überall auf der Welt häuften sich Massenstrandungen. In Australien lagen 2000 Grindwale und 1200 Delfine zusammen an einem einzigen Strand. In Südafrika waren es Schwertwale. Neunundachtzig Buckelwale waren auf Cape Cod auf Grund gelaufen.
Theorien gab es reichlich. Aber an Beweisen mangelte es. Das Meer veränderte sich – so viel wussten wir. Die Strömungen wurden verschoben. Die Gezeiten wandelten sich. Jede Flut schlich sich höher. Jede Ebbe wich weiter zurück. Die Nahrungskette zerfiel, und neue Totzonen hatten sich in bestimmten Gewässern gebildet. Verhungernde Wale wagten sich möglicherweise auf der Suche nach Futter ins Flache.
Aber es gab auch einige, die eine konservativere Ansicht vertraten.
»Solche Dinge sind in der Geschichte immer wieder vorgekommen«, sagte Miss Mosely, unsere neue Lehrerin in Naturkunde, während wir auf unseren Laborhockern herumrutschten.
Unter Miss Moselys Leitung hatten wir aufgehört, Mr Jensens Sonnensystem an der Wand zu aktualisieren. Das schwarze Tonpapier verblasste inzwischen. Die Papierplaneten wellten sich an den Kanten, und der Mond war aus dem Himmel gestürzt. Auf dem Schild unter Erde stand immer noch 28 Stunden, 6 Minuten , obwohl die Länge der natürlichen Tage sich seitdem fast verdoppelt hatte.
Miss Mosely beugte sich vorne im Saal über einen Laptop, in grauem Bleistiftrock und weißer Bluse, um uns im Internet Fotos von hunderten im 19. Jahrhundert an einer Küste liegenden Walen zu zeigen.
»Seht ihr?«, sagte sie. »Diese neuen Strandungen haben nichts mit der Verlangsamung zu tun.«
Aber wir nahmen ihr das nicht ab. Wir wussten, was kam.
In letzter Zeit hatte ich meine Mittagspausen in der Bücherei verbracht, wo Trevor Watkins vor einem Computer saß und ein Raumschiff mit dem Treibstoff richtig gelöster Algebraaufgaben versorgte und Diane Kofsky einen Liebesroman las, während sie sich heimlich Chips aus ihrem Rucksack in den Mund steckte – in der Bücherei durfte nicht gegessen werden, und auch nicht gesprochen.
Die einzig gute Ausrede dafür, aus eigenem Antrieb mittags in der Bibliothek zu sitzen, war, Hausaufgaben für die nächste Stunde machen zu müssen. Aber meine Hausaufgaben waren erledigt. Stattdessen versuchte ich zu lesen – ich las gerade einen Roman über einen Jungen, der allein in der kanadischen Wildnis gestrandet war –, aber ich konnte mich nicht auf die Wörter konzentrieren. Mrs Marshall las vorne an ihrem Tisch die Zeitung und hob hin und wieder den Kopf, um Jesse Schwartz zu kontrollieren. Möglicherweise waren wir alle gegen unseren Willen in der Bücherei, aber Jesse war zur Strafe für ein uns nicht bekanntes, aber leicht vorstellbares Vergehen hier. Er saß allein abseits an einem Tisch, zappelte herum und starrte hinaus auf den Schulhof, wo er hingehörte, sein natürliches Habitat, dessen Geräusche uns hier lediglich als schwaches Unterwassermurmeln erreichten.
Ungefähr zur Hälfte der Pause schwang die Glastür der Bücherei auf. Der Lärm von draußen schwappte herein, wurde aber abrupt abgeschnitten, als die Tür zuschlug.
Als ich sah, wer es war, hatte ich das Gefühl, meine Gedanken hätten ihn herbeigerufen. Er war anders als wir übrigen in der Bibliothek – besser aussehend, beliebter. Seth Moreno: Ich hatte ihn noch nie mittags in der Bücherei gesehen.
Er setzte sich zwei Plätze neben mich. Viele Minuten überlegte ich, ob diese Nähe Zufall oder Absicht war.
Er lehnte sein Skateboard an den Stuhl. Diane blickte von ihrem Buch auf. Man sieht nicht oft Skateboards in der Bücherei.
Aus seinem Rucksack zog er einen Spiralblock und einen Druckbleistift. Er blätterte auf eine leere Seite und strich sie mit der Handfläche glatt.
Dann zeichnete er sorgfältig auf das linierte Blatt. Ich konnte aus der Spitze seines Bleistifts langsam den Umriss eines kleinen Vogels im Flug entstehen sehen, die Flügel an die Seiten
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