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Ein Jahr voller Wunder

Ein Jahr voller Wunder

Titel: Ein Jahr voller Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Thompson Walker
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mich auf den Fußboden. Wieder berührte er meine Schulter, wie aus Versehen. Wir hatten eine neue Wunderkraft: Unsichtbarkeit.
    »Du hast hübsch ausgesehen in deinem Bikini«, sagte er.
    »Danke.« Ich lächelte ein verborgenes Lächeln. Möglicherweise war es das erste Mal, dass ein Junge sagte, ihm gefalle mein Aussehen. Lange Zeit saßen wir da, ohne zu sprechen.
    »Ich hab noch nie ein Mädchen geküsst«, flüsterte er.
    Es gibt Lebewesen auf dem Meeresgrund, die ohne Licht existieren können. Sie haben sich so entwickelt, dass sie leben, wo andere Tiere sterben würden, und die Dunkelheit hat auch uns mit gewissen besonderen Fähigkeiten ausgestattet. In der Finsternis waren Dinge möglich, die bei Licht nie funktioniert hätten. Ich verhielt mich still und wartete, dass etwas passierte.
    Ich spürte seinen Atem auf der Wange und rührte mich nicht. Sekunden vergingen. Und dann: Seine Lippen drückten sich auf mein Kinn – er hatte sich im Dunklen verschätzt.
    »Schon okay«, sagte ich.
    Er gab keine Antwort. Er räusperte sich.
    »Können wir es noch mal probieren?«, fragte er.
    Doch mich hatte der Mut verlassen.
    »Wir sind mitten im Spiel«, sagte ich.
    Als ich spürte, dass er sich erneut zu mir beugte, lehnte ich mich zurück.
    »Komm schon«, raunte er. »In ein oder zwei Jahren sind wir sowieso alle tot.«
    »Niemand weiß, was passieren wird«, sagte ich.
    Ich horchte nach Kai und Michaela, hörte aber nichts.
    »Wenn uns das Essen ausgeht, gibt es Kriege«, sagte er. »Große Kriege.«
    Er versuchte noch einmal, mich zu küssen, aber ich sprang auf und stieß gegen eines der Regale hinter uns. Etwas krachte zu Boden. Im Falle einer Katastrophe hätten sie ein Glas Marmelade weniger.
    »Von mir aus«, sagte er. »Hätte ich mir denken können, dass du total öde bist.«
    Ich hörte ihn aufstehen und im Dunklen zur Tür schlurfen. Der Geruch von Erdbeeren wehte durch die Luft.
    »Und überhaupt«, sagte er. »Michaela hat dich bloß eingeladen, weil ihre Mutter sie gezwungen hat. Ihr Freund durfte nur kommen, wenn auch noch jemand Verantwortungsbewusstes dabei ist.«
    Ich wusste, dass es stimmte, sobald er es sagte – der ganze Abend eine Illusion, die nun in sich zusammenfiel. Michaela hatte mich das ganze Jahr nirgendwohin eingeladen.
    Die Tür quietschte auf und schnappte zu. Ich war wieder allein in der Dunkelheit.
    Eine Zeitlang kauerte ich noch dort. Die einzige Möglichkeit schien, das Spiel fortzusetzen. Doch niemand sonst kam, und bald tauchte ein schmaler Lichtstreifen unter der Tür des Schutzraums auf. Sie hatte die Lampen im Haus angeschaltet – oder die Jalousien hochgezogen.
    Im Flur musste ich blinzeln, um etwas erkennen zu können. Meine Augen gewöhnten sich nur langsam ans Licht. Sie sahen wieder fern: Michaela und Kai, die Beine auf der Couch verschlungen. Michaela aß Pralinen aus einer Schachtel. Josh war nicht bei ihnen.
    »Da bist du ja«, sagte Michaela. Sie trug ihren Bikini und sonst nichts. Ihre Haare waren noch struppig vom Whirlpool. »Wir haben dich nirgends gefunden.«
    Das blaue Licht des Fernsehers flackerte auf ihrem Gesicht. Kai hielt den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
    »Ihr habt aufgehört zu suchen?«, sagte ich.
    »Wir konnten dich nicht finden.« Sie wandte sich wieder dem Fernseher zu. »Josh hat gesagt, er hat im Schutzraum nachgesehen, und da warst du nicht.«
    Später schlief ich in meiner Jeans auf dem Sofa ein. Ich wachte zweimal auf: einmal, als Michaelas Mutter und Harry ins Haus gerauscht kamen – das Klackern ihrer Absätze auf den Fliesen, beider Lachen – und dann, als einer der Jungs, Josh, glaube ich, sich im Badezimmer übergab.
    Morgens war ich als Erste wach. Eine Pizzaschachtel lag aufgeklappt auf der Arbeitsfläche, und eine volle Packung geschmolzenes Eis stand eingesunken daneben. Aber jemand hatte die Flaschen aufgeräumt.
    Über Nacht war die Sonne untergegangen. Es war dunkel und kalt, und es würde den ganzen Tag dunkel bleiben.
    Ich rief zu Hause an, und meine Mutter schickte meinen Vater los, um mich abzuholen. Ich ging, ohne mich zu verabschieden. Jemand musste ans Telefon gegangen sein, als der Wachmann aus dem Wachhäuschen anrief, denn das Auto meines Vaters tauchte bald mit leuchtenden Scheinwerfern auf der runden Zufahrt auf.
    »Warum so früh?«, fragte er, als ich in den Wagen stieg. »Stimmt was nicht?«
    Die Luft roch stark nach Rauch. Im Dunkeln konnten die Löschflugzeuge nicht fliegen, daher würden die Feuer

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