Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
das, John. Ich glaube, sie sind alle zu jung. Aber was du und ich glauben, scheint nicht unbedingt gut zu funktionieren, oder?«
Sie fixierte ihren Mann mit ihren braunen Augen. Das Thema war durch.
Dann wandte sie sich an Neal. »Ich nehme an, Sie möchten uns einige Fragen stellen.«
Es war ziemlich genau so, wie Rich Lombardi gesagt hatte. Alison Chase war eine Nervensäge erster Klasse, ein mißratenes Baby, das zu einem mißratenen Kind und einem mißratenen Teenager herangewachsen war. Mit zehn war sie gelangweilt, mit dreizehn übersättigt, mit sweet sixteen schon hoffnungslos verkorkst. Alison war ein klassischer Fall von zu viel zu früh und zu wenig zu spät.
Während Allie aufwuchs, boomte John Chases politische Karriere, und der junge Kongreßabgeordnete hatte immer weniger Zeit, vor allem, nachdem er den Riesenschritt zum Senator gemacht hatte. Entsprechend verbrachte seine Frau ihre Nachmittage in Washington mit anderen Politikerfrauen in Komitees, die sich wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben widmeten – zum Beispiel der Rettung von Kindern anderer Leute.
Für Allie war nichts zu gut. Sie bekam Tanz-, Reitund Tennisunterricht, wurde auf die besten Schulen geschickt, erst auf Tagesschulen in D. C. und dann auf Internate in New England, deren einzige Aufgabe darin besteht, junge Frauen für die nächste Generation Komitees abzurichten. Und da Allie schon früh gelernt hatte, daß ihre Aufführungen mit Aufmerksamkeit belohnt wurden, führte sie sich auf – und zwar schlecht. Denn obwohl nichts gut genug für Allie war, war Allie niemals gut genug für Mum und Dad. Die Versuche, perfekt zu sein, wurden immer seltener und schließlich durch demonstratives Desinteresse und absichtliche Patzer ersetzt. Die Schöne verwandelte sich in das Biest. Dabei hatte das niemand gewollt: weder Mum noch Dad, weder die Trainer noch die Lehrer – nicht einmal Allie selbst.
Schon früh hatte der Teenager entdeckt, daß die hübschen Flaschen in den Bars und Schränken des Hauses eine kraftvolle Waffe gegen das Leben, wie sie es kannte, darstellten.
Als die Eltern anfingen, die Bar und die Schränke abzuschließen, ließ sie sich von ihren Schulkameraden beibringen, daß Kreditkarten Türen nicht nur auf symbolische Weise öffneten.
Wenig später entdeckte sie das Potential von Mutters Medizinschränkchen: daß man sich, wenn man eine Valium in ein Glas Whiskey fallen ließ, um den Rest des Nachmittags nicht mehr kümmern mußte. So driftete sie durch Tage und Nächte, und ihre einzige Sorge war die Aufstockung ihrer chemischen Speisekammer. Ein ungewöhnlich kooperativer Psychologe glaubte ihr die Geschichte von panischen Angstattacken und verschrieb ihr das passende Medikament in praktischen fünf und zehn Milligramm-Tabletten. Auf den dunklen Gängen ihrer Schule war Allie schon bald bekannt als diejenige, die tatsächlich pharmazeutisches Wechselgeld hatte.
Teenager-Jungs, deren Hormone wie Ping-Pong-Bälle in einem Vakuum herumploppten, erkannten Allie als leichte Beute. Allie entdeckte den Sex, was nicht so schlimm gewesen wäre, bloß entdeckte sie keine Verhütungsmethode, und sie wurde schwanger. Sie bekam immerhin soviel Angst, daß sie sich ihrer Mutter anvertraute, die sie zu einem diskreten Arzt spedierte. (»Dad wird euch alle umbringen«, verkündete sie dem Arzt und der Schwester, »damit ihr nichts sagen könnt.«) Nach dieser Episode fand Allie Teenie-Jungs zu kindisch. Sie wurde von der Beute zur Jägerin und verlegte sich darauf, willige ältere Böcke zu erlegen.
Allie hatte das Haar ihrer Mutter geerbt und irgendwoher ein Paar blaue Augen, die sogar auf Fotos zu leuchten schienen. Der genetische Bildhauer hatte Allie ein klassisch schönes Gesicht mitgegeben, und einen Körper, der Amerikas Schönheitsideal entsprach. Sex schien das Mädchen als Waffe einzusetzen. Sex war Rache!
Mit siebzehn hatte sie folglich schon alles hinter sich: Drinks, Drogen, Jungs und Männer. Eines Tages kramte sie ihre Kreditkarte hervor, kaufte ein Flugticket und reiste nach Paris. Das war drei Monate her, und seitdem hatte niemand mehr etwas von ihr gehört oder gesehen, bis vor drei Wochen, als irgendein Junge sie in London getroffen hatte.
»Warum haben Sie drei Wochen gewartet, bis Sie jemandem mitteilten, daß Allie gesehen wurde?« Die interessantere Frage, dachte Neal, war, warum sie drei Monate gewartet hatten, bevor sie überhaupt etwas unternahmen. Aber diese Frage stellte er lieber nicht.
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