Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
jedoch lieber von einem Taxi überfahren werden, als Allie und Colin aus den Augen zu verlieren. Und genau das passierte ihm gerade. Sie dürften den Square schon erreicht haben, und falls sie nicht irgendwo stehenblieben, hatte er kaum eine Chance mehr, sie zu erwischen.
Es wurde grün, und Neal rannte über die Straße. Kein Colin, keine Allie, kein Punkhaarschnitt, kein Crisp. Es wimmelte von Menschen. Die Panik rauschte in seinen Ohren. Eine vage Idee schoß ihm durch den Kopf. Er überquerte die Straße, entfernte sich vom Square und rannte eine Treppe an der Außenseite eines Eckhauses hoch. Im ersten Stock befand sich ein Restaurant, mit ein paar Plätzen zum Square. Er ging hinein. Es war proppenvoll mit Warteschlange. Neal drängelte sich zum Oberkellner vor. (Er hätte nie gedacht, daß sein Leben einmal in der Hand der Londoner Oberkellner läge.)
»Sir«, sagte der Ober in einem Ton, der Neal verriet, daß diese Kerle alle auf dieselbe Schule gegangen sein mußten, »vielleicht ist Ihnen die Warteschlange hinter Ihnen aufgefallen?«
»Ich treffe mich mit Freunden«, sagte Neal, »und ich bin sehr spät dran.«
»Welchen Namen haben Ihre Freunde, Sir?«
Tick, tick, tick. Vielleicht den guten alten Aufschlag-Trick…
»Lord und Lady Hectare«, sagte Neal, stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte einem älteren Paar zu, das vor einem Fenster saß. Der verblüffte alte Mann winkte zurück, gerade rechtzeitig, daß der Oberkellner es sehen konnte.
»Bitte, bringen Sie mir einen Stuhl, ja?« sagte Neal, bevor der Ober eine Chance hatte, seine Reservierungsliste zu Rate zu ziehen. Neal hoffte, daß der Kellner nicht den Mut hatte, sich mit einem Freund des Adels anzulegen. Er hastete hinüber zu dem Tisch und lächelte sein gewinnendstes Lächeln.
»Guten Tag«, sagte Neal und sah zum Fenster hinaus. »Sie kennen mich nicht, aber ich muß einen Augenblick lang hier stehen und aus diesem Fenster sehen.« Er suchte den Square ab, von links nach rechts, von hinten nach vorn, vielleicht, vielleicht…
»Sieh mal einer an«, sagte der alte Mann.
»Genau«, sagte Neal. »Ich dachte, ich hätte vor einem Augenblick eine sehr seltene Bumbailey-Taube in einem der Bäume auf dem Square landen sehen. Ich konnte mir die Chance, sie zu identifizieren und meiner Liste hinzuzufügen, nicht entgehen lassen.«
»Eine Bumbailey-Taube!« rief die Frau begeistert. »Die habe ich auch noch nie gesehen!« Jetzt blickte sie auch aus dem Fenster.
»Mann«, sagte der alte Mann.
»Ich glaube eher, daß es ein Weibchen ist. Aber ich habe sie auch nur ganz kurz gesehen.« Da waren sie. Sie gingen an der Westseite des Squares entlang, blieben nicht stehen und überließen Neal nun die Wahl, zu bleiben und zuzusehen, wie sie verschwanden oder hinunter auf den Square zu rennen und sie aus den Augen verlieren.
»Ich habe mein Opernglas in der Tasche«, sagte die Frau. Neal hörte nicht zu. Er hatte den bitteren Geschmack des Mißerfolgs im Mund. Er wollte sich gerade davonmachen, um zu versuchen, sie zu verfolgen, als er die Trommeln und Zimbeln hörte. Colin und die anderen drei stoppten und versuchten, sich umzudrehen. Zu spät. Hinter ihnen ballten sich die Gaffer, und vor ihnen waren die Hare Krishnas, mindestens fünfzig. In perfekter Aufstellung marschierten sie zum Westende des Squares. Als der vorderste von ihnen um Colin und Allie herumging, entspannte sich Neal. Vielleicht gibt es doch einen Gott, dachte er. Hare Krishna, Hare Hare.
»Ich glaube, ich hab sie entdeckt!« rief die Frau. Andere Gäste starrten sie an. »Eine Bumbailey-Taube«, erklärte sie geduldig.
»Ich geh jetzt wohl besser wieder«, sagte Neal. »Besten Dank auch.« Er marschierte zur Tür.
»Stimmt etwas nicht, Sir?« fragte der Oberkellner.
Neal sah ihn angeekelt an. »Das ist doch nicht Lord Hectare.«
Dann ging er hinüber zu der Prozession.
Diese Hare Krishnas machen ganz schön was her, dachte Neal, als er sich zu den Gaffern gesellte. Ich meine, man hält sie immer für Luftikusse, aber sie wissen auf alle Fälle, wie man ‘ne Prozession veranstaltet. Colin sah nicht sonderlich begeistert aus, mitten zwischen den Hare Krishnas. Allie lachte und sang mit.
Neal ging um die Prozession herum und posierte sich in Colins Blickfeld. Er lehnte sich gegen die Statue von Charlie Chaplin und sah den Hare Krishnas zu, wie sie musizierten, sangen, klatschten. Cool. Er konnte wieder zu Atem kommen.
Als die Leute endlich verschwanden, sah Colin
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