Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
langsam, dann immer schneller, vor und zurück, vor und zurück. Ihm brach beinahe das Herz.
Er konnte sich nicht bewegen. Als wäre er wieder zehn Jahre alt und sähe seiner Mutter zu. Wie sie kämpfte und verlor. Wie sie ging und wiederkam, stoned. Er spürte die Wut, den Haß und die Verachtung. Er wollte schreien. Er erinnerte sich, wie er seiner Mutter die Stirn mit einem nassen Tuch abgewischt hatte. Wie er ihre Hand gehalten und gesagt hatte: Es ist gut, du schaffst es. Aber sie schaffte es nicht. Nicht ihm zuliebe, nicht sich zuliebe. Er haßte sie dafür. Daß sie ihn verließ. Daß sie den Stoff mehr liebte als ihn. Er hörte Allies leises Weinen, sah, wie sie sich umarmte, festhielt, aber er konnte sich nicht rühren. Verdammt, warum konnte er sich nicht bewegen? Trauer und Wut hielten ihn fest, er konnte kaum atmen, wollte schreien, seinen Frust hinausbrüllen, und konnte es nicht. Statt dessen stand er auf, ging zu ihr hinüber, setzte sich neben sie und hielt sie fest. Sie packte seine Hand, und er wiegte sie, vor und zurück, vor und zurück, und sagte: »Ich weiß, ich weiß.«
Später ließ er sie allein, um ein Feuer zu machen und Teewasser aufzusetzen. Er fand keinen Zucker, aber auf einem Bord stand ein großes Glas Honig. Er rührte einen großen Löffel in den Tee. Hielt die Tasse, während sie schlückchenweise trank. Dann wiegte er sie wieder.
26
Colin saß in der Tinte.
Er wußte es, als er das Motorrad um die Ecke schob und die beiden Chinesen am anderen Ende der Straße erblickte. Das waren Dickie Huans Jungs, kein Zweifel. Colin sah im Geiste seine Hand auf dem Hackklotz und schob seine Karre zurück. Die beiden faulen Säcke hatten ihn nicht gesehen. Er fuhr nach East London, in seine alte Gegend, und hoffte, daß Crisp clever genug war, dasselbe zu tun.
War er natürlich nicht. Das einzige, was er wollte, war, Colin zu finden. Also latschte er pflichtbewußt zurück zur Wohnung. Als er um die Ecke bog, dachte er gerade darüber nach, ob sein Gesicht jetzt nicht sogar viel interessanter aussah als zuvor.
»Er ist bestimmt nicht da«, nörgelte Vanessa. Ihr Kopf tat weh, ihr Kerl sah aus, als wäre eine Fußballmannschaft über ihn hinweg getrampelt, und sie vermutete, daß Colin die ganze Sache voll vermasselt hatte.
»Dann wart’n wir.«
Die beiden Leder-Chinesen an der Ecke fielen ihnen nicht auf. Außerdem kloppten sich Chinesen sowieso meistens nur mit anderen Chinesen, also hatte Crisp nichts gegen sie. Er wollte einfach nur ein paar Bier trinken und zu Bett gehen.
Die Chinesen waren gut in Form. Sie ließen dem entsetzlich aussehenden Jungen und seiner komischen Freundin einen großen Vorsprung, schlüpften dann nach ihnen in das Mietshaus und kamen gerade vor der Wohnungstür an, als Crisp aufgeschlossen hatte.
Der größere von ihnen sprang Crisp von hinten an, stieß ihn durch die Tür und ließ sich auf seinen Rücken fallen. Er riß ein Messer heraus und drückte es in Crisps Nacken. Ein Tropfen Blut wurde sichtbar. Der andere hielt Vanessa einen Revolver an den Kopf. Sie gab keinen Ton von sich.
»Wo ist Colin?« fragte der Große schließlich und drückte mit dem Messer fester zu.
Was für ein unglaublich beschissener Tag, dachte Crisp, also wirklich. »Weiß nich.«
»Er schuldet Geld.«
»Ich weiß nich, wo er is.«
»Er schuldet Geld.«
»Ich hol welches. Laß mich los.«
»Du weißt, wo er ist.« Das war keine Frage.
»Nein, weiß ich nich.«
Der Chinese steckte sein Messer in Crisps Ohr, die Spitze war kurz vor dem Trommelfell.
Crisp fragte sich, ob das panische Klopfen seines Herzens das letzte wäre, was er jemals hörte.
»Du weißt, wo Colin ist.«
»Er jagt mit dem Motorrad einen Amerikaner, der sein Geld gestohlen hat!« Vanessas Eingreifen überraschte Crisp, der versuchte, absolut, aber wirklich ab-so-lut stillzuliegen. Er atmete flach, dann spürte er, wie die Klinge aus seinem Ohr gezogen wurde.
Schließlich sagte der Ohrenarzt: »Colin hat das Geld nicht?«
Er klang nicht so, als ob ihm das gefiele.
Colin war nicht gerade begeistert darüber, in seine alte Wohngegend zurückkehren zu müssen. Aber hier konnte er wenigstens untertauchen, verschwinden und verschwunden bleiben, bis er wußte, wie er an Neal und sein Geld herankam. Denn wenn er das nicht schaffte, konnte er London vergessen.
Es ist nicht leicht, jemanden zu beschatten, der einen kennt, und schon gar nicht, wenn die Zielperson weiß, daß man
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