Ein kalter Hauch im Untergrund - Neal Carey 1
nicht.«
»Doch, schaffst du.«
»Ich werde sterben.«
»Nein, wirst du nicht.«
Doch, schaffst du? Nein, wirst du nicht? Tolle Sache, dachte Neal. Vielleicht solltest du ein Büro aufmachen, vierzig Mäuse die Stunde berechnen und sagen: »Doch, schaffst du«, »Nein, wirst du nicht«. Er wünschte sich beinahe, er hätte den Stoff nicht weggeworfen. Das Mädchen litt. Und die Liste von Frauen, denen er geholfen hatte, vom Heroin loszukommen, war nicht sonderlich lang.
»Ich habe Angst«, sagte sie.
»Ich auch.«
»Falsche Antwort, du Idiot. Du hast Angst? Die ganze Sache war doch deine Idee!«
Sie fing an zu lachen. »Du hast Angst.«
Sie lachte, als sie mit den Fäusten gegen seine Brust hämmerte, lachte immer schriller, bis ihre Stimme sich überschlug und sie in Tränen ausbrach.
Später kamen die Krämpfe. Sie versuchte, sich zu übergeben, konnte es aber nicht, und das trockene Würgen tat genauso weh wie die Krämpfe. Neal hielt sie von hinten – eine Hand in ihrem Nacken, mit der anderen drückte er gegen ihren Magen. Wenn sie nicht würgte, tupfte er ihre Stirn mit einem kühlen Tuch ab und sprach beruhigend auf sie ein, daß es vorbeigehen würde, daß sie okay sein würde, daß sie nicht sterben würde. Er sang ihr alle Schlaflieder vor, an die er sich erinnerte, erzählte ihr die Plots von »Star-Trek«-Episoden.
Schließlich wurde es Morgen. Neal hatte das Gefühl, eine der härtesten Nächte seines Lebens verbracht zu haben.
Er wußte, daß es für Alice garantiert die härteste gewesen war. Sie hatte es rausgeschwitzt, hatte ausgehalten, all die guten Klischees. Jetzt schlief sie endlich. Mit der Dämmerung kam ein wenig Frieden.
Er brauchte ihn. Er hatte eine Nacht mit der armen Allie hinter sich und eine Nacht mit seinen eigenen Geistern: Ein Mädchen, dem er helfen konnte; eine Mutter, der er nicht helfen konnte. Tausend Erinnerungen an eine Frau in Schmerz und Not, an einen kleinen Jungen, der nichts tun konnte, und der sie haßte, sich selbst haßte. Aber in dieser Nacht hatte er helfen können. Sie hatten es gemeinsam durchgestanden. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, sah Allie schlafen, ruhte sich aus für den nächsten Anfall und merkte, daß seine Wut weg war. Die Trauer würde immer bleiben, das wußte er, aber die Wut war verschwunden. Vielleicht gibt es einen Gott, dachte er, und er hat mir Allie Chase gesandt.
Als Allie später aufwachte und Neal sah, lächelte sie schwach. Dann beugte sie sich vornüber und kotzte in den Eimer, den Neal ihr bereitgestellt hatte.
»Ich liebe den Morgen, du nicht?« fragte Neal. Sie murmelte einen Fluch. Er warf ihr ein nasses Handtuch zu, damit sie ihr Gesicht abwischen konnte. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine gaben nach. Neal faßte sie fest am Arm und führte sie nach unten bis zu dem Sessel vor dem Kamin. Er brauchte ein paar Minuten, um das Feuer in Gang zu setzen, und dann trug er einen glimmenden Zweig in die Küche und heizte den Ofen an. Er setzte Teewasser auf und stellte einen Löffel mit Honig in Alices Tasse. »Geht’s dir gut?« rief er.
»Großartig.« Er deutete ihren Sarkasmus als gutes Zeichen. »Bin gleich wieder da.«
»Ja, ja.«
Er blickte aus dem Fenster, während er darauf wartete, daß das Wasser kochte. Linker Hand sah er einen kleinen Hund, der eine Schafsherde vorantrieb. Er fragte sich, wo der Hirte war. Sicher würde er den Rauch aus Simons Schornstein bemerken, vielleicht auf ein Täßchen Tee und einen kleinen Tratsch vorbeikommen. Neal fing an, sich ein paar Lügen für diesen Fall auszudenken. Er schreckte zusammen, als der Wasserkessel pfiff.
Er schüttete etwas Tee in die Kanne, goß kochendes Wasser darüber, nahm ein Sieb und trug alles rüber zum Kamin, wo er Allie die erste Tasse eingoß.
»Trink«, ordnete er an. »Tut gut.«
»Ich kotz das aus«, warnte sie.
»Um Gottes willen, das wollen wir doch nicht!«
Sie nahm die Tasse und nippte daran. »Schön süß.«
»Hast du Hunger?«
Ihr entsetzter Blick war Antwort genug.
»Ich schon«, sagte er.
»Dann iß was.«
In einem Regal in der Küche entdeckte er ein paar Vollkornkekse.
»Wird heute genauso schlimm wie gestern?« Sie sah aus wie ein verängstigtes Kind.
»Nein. Dir wird nicht ganz so schlecht werden. Du wirst wieder frieren, und es wird weh tun. Aber nicht so schlimm.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich lese viel.«
»Kann ich einen Keks haben?«
Er gab ihr die Tüte.
Sie saßen ein paar Minuten
Weitere Kostenlose Bücher