Ein kalter Mord - McCullough, C: Ein kalter Mord
hochvertraulichen, handgeschriebenen Nachricht lugte unter einem Bündel von Rohfassungen einiger Diktate,die sie vom Professor aufgenommen hatte; Tamara schob Desdemona zur Seite.
»Wagen Sie es nicht, in meinen Papieren zu wühlen, Dupre!«
»Ich war einfach nur von dem unglaublichen Chaos fasziniert, in dem Sie arbeiten«, erwiderte Desdemona mit affektierter Stimme. »Kein Wunder, dass Sie diesen Laden nicht führen konnten. Sie könnten ja noch nicht mal ein Besäufnis in einer Brauerei organisieren.«
»Warum gehen Sie nicht und ficken sich ins Knie? Eins ist sicher, Sie sind viel zu hässlich, als dass irgendein Mann Sie vögeln würde!«
Desdemonas Augenbrauen hoben sich. »Es gibt Schlimmeres, als mit einer unbeantworteten Frage zu sterben«, sagte sie und lächelte, »aber glücklicherweise gibt es Männer, die gern den Mount Everest besteigen.« Ihre Augen folgten Tamaras rotlackierten Fingernägeln, als deren Hände durch den Papierstapel wühlten und das entscheidende Papier verschwinden ließen. »Ein Liebesbrief?«, fragte sie.
»Verpiss dich! Ihre Gehaltsliste ist nicht hier!«
Desdemona ging mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Durch die geöffnete Tür hörte sie das entfernte Klingeln ihres Telefons.
»Miss Dupre am Apparat«, sagte sie und setzte sich.
»Oh, gut, schön zu wissen, dass Sie bei der Arbeit sind«, sagte die Stimme der zweiten Person, die ihr momentan ein Dorn im Auge war.
»Ich bin immer bei der Arbeit, Lieutenant Delmonico«, fauchte sie. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Wie wäre’s, wenn Sie abends mal mit mir essen gehen?«
Die Frage wirkte wie ein Schock, aber Desdemona beging nicht den Fehler zu meinen, er mache ihr ein Kompliment.
»Kommt drauf an«, erwiderte sie misstrauisch.
»Worauf?«
»Wie viele Haken und Ösen daran befestigt sind, Lieutenant.«
»Während Sie damit beschäftigt sind, sie zu zählen, wie wär’s, wenn Sie mich Carmine nennen und ich Sie Desdemona?«
»Vornamen sind für Freunde, und ich betrachte Ihre Einladung mehr im Licht eines Verhörs.«
»Heißt das, ich kann Sie Desdemona nennen?«
»Darf, nicht kann.«
»Prima! Also – Abendessen, Desdemona?«
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und schloss die Augen. »Na schön, dann also Abendessen.«
»Wann?«
»Heute, falls Sie Zeit haben,
Carmine
.«
»Super. Was essen Sie gern?«
»Chinesisch.«
»Einverstanden. Ich hole Sie um sieben von zu Hause ab.«
Natürlich kannte der Mistkerl die Privatadressen von allen! Er fuhr wahrscheinlich regelmäßig vorbei und sah nach, ob irgendwo ein hübsches junges Gesicht aus dem Fenster schaute. »Nein, danke. Ich würde es vorziehen, Sie im Restaurant zu treffen. Welches wäre das?«
»Das Blue Pheasant in der Cedar Street. Kennen Sie das?«
»Oh, ja. Wir treffen uns dort um sieben.«
Dann legte er ohne langes Federlesen auf und überließ es Desdemona, Pläne nicht für eine Verführung, sondern für ein Duell zu schmieden. O ja, in der Tat, ein wenig Stechen und Parieren wären eine sehr willkommene Abwechslung! Wie sehr sie diese Seite des Lebens vermisste! Hier in Holloman lebte sie im Exil, deponierte ihr üppiges Gehalt umgehend auf der Bank, um schnell aus diesem großen und seltsamen Land zurück in ihre Heimat zu kommen. Geld war nicht alles, aber bisman welches hatte, war jedwedes Leben irgendwie eher trist. Desdemona wünschte sich eine kleine Wohnung in Strand-on-the-Green mit Blick auf die Themse, mehrere Beraterverträge mit Privatkliniken und ganz London quasi vor ihrer Haustür. Zugegebenermaßen war ihr London genauso unbekannt, wie Holloman es gewesen war, aber Holloman war ein Exil, und London war der Nabel der Welt. Fünf Jahre hatte sie schon, weitere fünf Jahre musste sie noch, dann hieß es Lebewohl Hug und Bye-bye Amerika. Eine super Referenz, um sich diese Beraterverträge zu sichern und ein dickes Bankkonto. Das war alles, was sie von Amerika wollte. Man kann die Engländer aus England herausholen, dachte sie, aber England nicht aus den Engländern.
Sie ging jeden Tag zu Fuß zur Arbeit und zurück, eine Form der Bewegung, die ihrer Wanderseele entgegenkam. Obwohl diese Aktivität einige der Kollegen entsetzte, sah Desdemona darin keine Gefährdung, denn ihr Weg führte direkt durch The Hollow. Durch ihre Größe und den athletischen Gang, ihre selbstbewusste Art und die fehlende Handtasche war sie kein typisches Opfer. Außerdem kannte sie nach fünf Jahren das Gesicht eines jeden, den sie
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