Ein kalter Strom
daran. Danke, dass Sie mein Schiff so schön finden.« Er winkte flüchtig und ging an Bord zurück.
Dein Geschick mit Menschen ist ja nicht gerade umwerfend,
dachte Tony sarkastisch. Er hatte nicht erwartet, dass sein Mörder besonders gewandt in der Öffentlichkeit auftreten würde, aber doch gehofft, ein bisschen mehr aus ihm herauszukriegen. Es hatte sich nichts ergeben, das ihren Verdacht in Bezug auf den Kapitän der
Wilhelmina Rosen
bestätigte oder widerlegte. Außer wenn man den leicht makabren Wimpel mitzählte, wozu Tony allerdings neigte. Es war interessant, dass Mann behauptet hatte, sein Großvater sei vor zwei Jahren gestorben. Das unheimliche Fähnchen sah bei weitem nicht zerlumpt genug aus, um wochenlang, von Monaten gar nicht zu reden, dort gehangen zu haben. Wenn Mann den Wimpel in regelmäßigen Abständen ausgetauscht hatte, mochte ihm dies vielleicht helfen, die Erinnerung an den Tod seines Großvaters immer wieder aufzufrischen. Aber vielleicht gab es eine verhängnisvollere Erklärung. Vielleicht war der Wimpel nicht für den alten Mann. Vielleicht war er für Marie-Thérèse Calvet. Irgendwie hatte er es im Gefühl, dass er gerade mit einem Serienmörder geplaudert hatte. Mit Sicherheit zeigte Mann einige der Charakteristika, die man bei einem Mörder mit gestörter Persönlichkeit erwarten würde – die Abneigung, sich ins Gespräch ziehen zu lassen oder dem anderen in die Augen zu sehen, die Unbeholfenheit im Umgang mit Menschen. Aber das konnten auch einfach die Merkmale eines zurückhaltenden Mannes sein. Und das Endergebnis?
Sie hatten kaum ein winziges Bruchstück eines Beweises, um sein rein gefühlsmäßiges Urteil zu stützen.
Wahrscheinlich war das Einzige, was sie jetzt tun konnten, Mann zu überwachen, bis er sein nächstes Opfer ins Visier nahm. Zeit für Marijke, ihren Ehrgeiz beiseite zu lassen und zum Angriff zu blasen. Es wurde ihm klar, dass er sie anrufen sollte. Vorher musste er jedoch seinen Spaziergang am Hafen auf unverdächtige Weise beenden. Tony wandte der
Wilhelmina Rosen
den Rücken und ging am Kai entlang, blieb dabei ab und zu stehen und betrachtete eingehend das eine oder andere Schiff. Es war langweilig, aber notwendig. Wie so vieles im Leben eines Profilers, dachte er lächelnd. Aber was war schon eine Dosis Langeweile im Vergleich zu der Hochstimmung, wenn es um die Rettung von Leben ging?
Krasic steuerte den großen Mercedes schwungvoll zum Hafengelände und fuhr langsam am Ufer entlang. »Ich kenne das hier«, sagte Krasic. »Wir hatten hier auch schon mal Schiffe liegen.« Plötzlich zeigte er auf eine Stelle des Kais, wo ein Mann mit einer Kamera herumtrödelte und die Schiffe betrachtete. »Da ist er. Das ist der verdammte Dreckskerl Hill«, sagte er.
»Das ist er?« Tadeusz klang ungläubig. »Der miese kleine Typ in dem albernen Tweedjackett?«
»Das ist er, ich schwöre es.«
»Gib mir deine Pistole.«
»Was?« Krasic war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Er war für die praktische Durchführung zuständig, nicht Tadzio.
»Gib mir deine Pistole.« Tadeusz streckte ungeduldig die Hand aus.
»Du erschießt ihn doch nicht hier am helllichten Tag?«, fragte Krasic. Bei der Laune, die der Boss hatte, war alles möglich.
»Natürlich erschieße ich ihn nicht. Gib mir einfach die Pistole. Komm mit dem Auto hin, wenn ich neben ihm stehe.«
Krasic fasste nach hinten, wo auf seinem Rücken eine kleine Glock G 27 in einem gepolsterten Halfter versteckt war. Er zog die Waffe heraus und gab sie Tadeusz. »Neun im Magazin«, sagte er knapp.
»Ich habe nicht vor, sie zu benutzen. Zumindest noch nicht«, sagte Tadeusz kühl und steckte die Pistole in die Tasche seines Regenmantels. Er stieg aus und ging schnell zu dem Mann hinüber, auf den Krasic gezeigt hatte. Als er hinter Tony war, legte er die Hand um den tröstlichen Griff der Pistole, und auf gleicher Höhe angekommen, stieß er Tony die Mündung der Waffe in die Rippen. »Bewegen Sie sich nicht, Dr. Hill«, sagte er, seine Stimme klang brutal, und mit der freien Hand packte er Tony am Arm. Für einen Beobachter konnte es aus der Ferne aussehen, als träfen sich zwei Freunde und begrüßten sich. »Das ist eine Pistole.«
Tony erstarrte. »Wer sind Sie?«, fragte er heiser, denn er konnte den Angreifer nicht sehen.
»Mein Name ist Tadeusz Radecki.«
Tony konnte nicht verhindern, dass der Schock seine Muskeln verkrampfte. Er zuckte heftig unter Tadeusz’ festem Griff. »Ich begreife
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