Ein kalter Strom
niemanden interessieren, was er dachte. »Tut mir Leid«, sagte er ausweichend. »Ich habe heute noch keine Nachrichten gehört. Was meinen Sie damit?«
»Hat niemand Sie angerufen?« Penny klang überrascht.
»Ich hatte Vorlesung und bin buchstäblich gerade durch die Tür gekommen, als Sie anriefen. Was ist los gewesen im Revisionsgericht?«
»Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass die Verurteilung von Vance wegen des Mordes an Shaz Bowman unhaltbar war.«
Tony hatte das Gefühl, ein Abgrund tue sich unter ihm auf. Ein plötzlicher Schwindel ergriff ihn, und er klammerte sich mit der freien Hand an den Schreibtisch. Durch das Summen in seinen Ohren hörte er Penny Burgess’ Stimme. Er zwang sich, ihr zuzuhören. »Es ist nicht so schlimm, wie es scheint«, sagte sie. »Er wurde sofort wegen des Mordes an Barbara Fenwick von neuem verhaftet. Er ist wieder hinter Gittern, in Untersuchungshaft. Nach einer Quelle der Polizei gab es in der ursprünglichen Verhandlung die Zeugenaussage eines Markthändlers, die die Beschuldigungen völlig untergrub und den Crown Prosecution Service damals veranlasste, auf dieser Grundlage nicht gegen Vance vorzugehen.«
»Ich erinnere mich«, bestätigte Tony.
»Also, offenbar hat eine Mitarbeiterin der BBC den Fall untersucht und konnte dabei eine Tonaufnahme von dem Zeugen machen, in der er zugibt, dass er diese Aussage nur gemacht hatte, weil Vance ihn darum bat. Jetzt hat er seine frühere Aussage widerrufen. Es könnte also einen weiteren Prozess geben und ich habe gehört, dass man beim Crown Prosecution Service, wo ja die Entscheidung über zu verhandelnde Fälle getroffen wird, insgeheim recht zuversichtlich ist. Ich würde gern wissen, was Sie von der Sache halten.«
»Ich kann dazu keinen Kommentar abgeben«, sagte er müde.
»Meine Bitte ist nicht, dass Sie sich zu den neuen Anschuldigungen äußern, da das Verfahren offensichtlich noch anhängig ist. Aber es muss Ihnen doch nahe gegangen sein, dass er für den Mord an jemandem, dessen Mentor Sie waren, nicht bestraft wurde.«
»Wie ich schon sagte, ich möchte keinen Kommentar abgeben.« Tony legte behutsam den Hörer auf. Er hätte ihn gern so hingeknallt, dass das ganze Plastikgehäuse zersprungen wäre, aber die Angewohnheit, sich zu beherrschen, war zu tief in ihm verwurzelt. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Dieser Dreckskerl Vance hatte damals gedroht, ihm das Leben zur Hölle zu machen, und es sah aus, als halte er sein Versprechen. Er konnte vielleicht wegen der anderen Morde verurteilt werden, aber er kam ohne den einen Schuldspruch davon, der für Tony wirklich wichtig war. Nicht nur das, sondern die relative Anonymität, die Tony sich mühsam erkämpft hatte, war durch einen einzigen Anruf wieder zerstört.
Bevor er irgendetwas tun konnte, klingelte das Telefon schon wieder. Diesmal beachtete er es gar nicht. Er fragte sich, wie lange er das durchhalten würde, bevor irgendein junger Schlaumeier von der Presseabteilung der Universität zu der Ansicht käme, dass ein Interview mit Tony Hill genau das bringen würde, was man brauchte. Er sprang auf und ging zur Tür. Es war an der Zeit, abzutauchen.
Manchmal war es ein großer Vorteil, einen Bruder zu haben, der Computerfachmann war. Carol hatte genug von Michael gelernt, um erkennen zu können, wie ein Programm aussah. Und das hieß, dass sie in der Lage sein würde, die Chiffriersoftware auf der externen Festplatte zu finden, die Gandle ihr gegeben hatte. In ein paar Minuten hatte sie das Programm an ihren Bruder in Manchester geschickt und ihn gebeten, es an Tony weiterzugeben, inklusive der Anweisung für die Installierung. So konnten sie jetzt E-Mails in vollkommener Sicherheit austauschen. Natürlich war das alles völlig vorschriftswidrig – zumindest ein Bruch des Gesetzes zum Schutz geheimer offizieller Dokumente. Sie hatte kurz gezweifelt, ob sie es tun solle, da sie nur zu gut wusste, wie ihre anscheinende Unbekümmertheit in Bezug auf Sicherheitsdinge von jemandem ausgelegt werden würde, der Tony nicht kannte. Aber das dauerte nur einen Moment. Sie kannte niemanden, der Vertraulichkeit mehr achtete und in konkreten Situationen einer komplizierten Ermittlung eine größere Hilfe sein konnte als Tony. Und Carol hatte ihrer Neigung, sich auf sich selbst zu verlassen und einfach zu tun, was sie für am besten hielt, schon immer vertraut. Michael hatte sie bei Todesstrafe verboten, die Software an jemand anders weiterzugeben, und
Weitere Kostenlose Bücher