Ein kalter Tag im Paradies – DuMonts Digitale Kriminal-Bibliothek: Alex-McKnight-Serie (German Edition)
hatte ich ihm getan? Woher diese Obsession wegen meiner Person?
Als ich wieder in den Wagen stieg, spürte ich, wie ein scharfer Glassplitter mir in den Finger schnitt. Ich zog ihn heraus und blickte auf die winzige Spur Blut. Nichts ist so rot wie Blut, nichts so einfach. Und ich hatte für ein ganzes Leben genug davon gesehen.
Im Glasgow bestellte ich ein Steak, das verdammt größte, das Jackie auftreiben konnte, medium rare , mit gebratenen Zwiebeln und vier eiskalten kanadischen Bieren. Jackie schenkte mir ein kurzes Lächeln. Ich glaube, er wußte, daß ich mich auf dem Rückweg in die Normalität befand. Wenn ich noch nicht wieder ganz ich selbst war, wußte er doch, daß das nur eine Frage der Zeit war. Ich erbat mir sein Telefon und begann, die Nummer der Telefongesellschaft zu wählen, als mir einfiel, daß es vermutlich schon zu spät am Tage war. Ich würde sie morgen anrufen, um meine Leitung wiederherstellen zu lassen. Und eine Werkstatt für Autoglas, um mir ein neues Fenster einbauen zu lassen.
Einige Minuten saß ich da und klopfte nachdenklich gegen meine Bierflasche, dann griff ich wieder zum Telefon. Beim dritten Klingeln war sie dran.
»Sylvia«, sagte ich, »ich rufe nur an, um zu hören, ob du auch okay bist.«
»Warum sollte ich nicht okay sein?« fragte sie. »Ich bin so okay, daß es mir mehr als perfekt geht.«
Mit ihrer Stimme war etwas nicht in Ordnung. »Bist du betrunken?«
»Ich bin mehr als betrunken«, antwortete sie. »Ich sitze hier in dem großen alten Haus an der Kante der Welt mutterseelenallein und werde mehr als betrunken.«
»Soll ich zu dir rauskommen?«
»Warum sollte ich wollen, daß du hier rauskommst?«
»Weil du nicht alleine sein solltest.«
»Warum sollte ich nicht alleine sein?«
»Weil du es nicht solltest. Verdammt noch mal, Sylvia, gestern nacht bist du den ganzen Weg zu meiner Hütte gekommen. Warum hast du das gemacht?«
»Weißt du, das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht genau, warum ich rausgekommen bin. Aber offensichtlich war es ein wundervoller Einfall. Noch ein strahlender Wendepunkt in meinem Leben. Ich habe endlich den Mann getroffen, der immerhin meinen Ehemann umgebracht hat. Das heißt eigentlich nein, ich habe ihn nicht wirklich getroffen. Ich habe ihn nur auf dem Boden liegen sehen, und der halbe Schädel war weggepustet.«
»Du wolltest nicht allein sein«, sagte ich. »Deshalb bist du zu meiner Hütte gekommen, stimmt’s? Das ist doch okay. Nach allem, was passiert ist, war das doch nicht verkehrt.«
»Doch, das ist es, Alex. Da ist etwas schrecklich verkehrt mit. Ich weiß nicht was, aber ich weiß, wenn ich darüber nachdenke … Jesus, wo ist denn meine Flasche?«
»Ich komme raus zu dir.«
»Gott steh mir bei«, sagte sie. Sie klang plötzlich nüchtern. »Wenn du hierherkommst, bringe ich dich um. Ich bringe dich um, oder ich bringe mich um. Und glaub mir, ich kann das. Das hab ich bei den Experten abgeguckt.«
»In Ordnung, Sylvia«, sagte ich. »In Ordnung. Nimm’s nicht so schwer.«
»Erzähl du mir nicht, wie ich es nehmen soll. Laß mich bloß in Ruhe. Verstanden? Laß mich verdammt noch mal in Ruhe!«
Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Ich schloß die Augen und lauschte auf das ferne Geräusch ihres Atems.
»Was haben wir getan, Alex?« sagte sie schließlich, und alles Gefühl schien aus ihrer Stimme gewichen. »Was haben wir bloß getan?«
Sie legte auf, bevor ich antworten konnte. Ich saß da und hielt das Telefon in der Hand. Und dann ließ ich mir von Jackie noch ein Bier bringen.
Zwei Stunden später war ich wieder an meiner Hütte. Es war dunkel. Ich ging zweimal außen um die Hütte herum. Ich wollte selbst nicht glauben, daß niemand mich mehr beobachtete, daß niemand draußen lauerte, um mich umzubringen.
Meine Pistole. Ich hatte keine Pistole mehr. Sie war noch auf dem Polizeirevier. Aber das war okay. Ich brauchte sie nicht mehr, oder?
Ich ging nach drinnen und suchte das Telefonbuch. Ich wollte Raymond Julius nachsehen, aber er stand nicht drin.
Vor fünf oder sechs Monaten. Was war vor fünf oder sechs Monaten?
Heute findest du das nicht mehr raus, Alex. Geh doch ins Bett. Morgen mußt du Holz hacken, saubermachen. Lebensmittel einkaufen, verdammt noch mal. Werd wieder ein Mensch.
Ich schlief. Zwei Stunden, vielleicht drei. Dann saß ich im Bett und schaltete das Licht an. Es war kurz nach Mitternacht.
Vor fünf oder sechs Monaten.
Das Telefonbuch lag noch auf dem Küchentisch.
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