Ein Kerl macht noch keinen Sommer
war schon ein bisschen mehr als das«, ereiferte sich Grace jetzt. Sie wusste, dass Laura diese Geschichte niemals heruntergespielt hätte. Im Gegenteil, Laura hatte mit Sicherheit dafür gesorgt, dass Sarah genau erfuhr, was ihr Vater getan hatte. Aber welchen Teil der Geschichte Sarah glauben wollte, das stand auf einem anderen Blatt.
»Wer wird sich denn um ihn kümmern, wenn er rauskommt?«, fragte Sarah. Ein Anflug von Panik schlich sich in ihre Stimme, als könnte diese Aufgabe womöglich auf sie zukommen, das einzige Kind, das von seinem Vater noch akzeptiert wurde.
»Er ist ja nun wirklich kein Pflegefall, Kind.«
»Ja, aber er weiß nicht, wie man Wäsche wäscht oder bügelt oder sonst irgendwas, oder?«, fauchte Sarah, ohne zu merken, als wie erbärmlich sie ihren Vater hinstellte.
»Ich weiß nicht«, sagte Grace auf einmal erschöpft. »Ich weiß nicht, ob die Polizei ihn noch länger festhalten oder freilassen wird. Ich weiß nicht, ob der Fall vor Gericht kommen wird oder …«
»Gericht?«, schrie Sarah jetzt. »Du kannst ihn doch nicht vor Gericht zerren! Er ist mein Vater !«
»Die Entscheidung liegt nicht bei mir, Sarah. Ich habe keinen Einfluss darauf, was jetzt geschieht.«
Bei dem Gedanken an ein Gerichtsverfahren bekam Grace Kopfschmerzen. Sie konnte an dem Vater dieser Kinder keinen Verrat begehen, egal, was sie von ihm als Ehemann hielt. Sie selbst könnte das grelle Rampenlicht schon aushalten, wenn Gordon vor Gericht gestellt und von den Zeitungen diffamiert werden sollte, aber sie wollte nicht, dass ihre Kinder und Enkelkinder noch mehr Leid erfuhren, als sie ohnehin schon erlitten hatten. Rechtsanwälte, das wusste sie, würden ihre Ehe bis ins kleinste Detail zerpflücken, nur um Spitzfindigkeiten zu beweisen, ohne Rücksicht darauf, was sie damit Grace’ Liebsten antaten. Und die Wahrheit konnte aus so vielen hässlichen Winkeln betrachtet werden.
»Ihr beide müsst euch einfach zusammenreißen«, sagte Sarah mit einem langen, ungeduldigen Seufzer. »In eurem Alter könnt ihr euch nicht mehr trennen. Ich werde sehen, ob ich irgendwo einen guten Therapeuten auftreiben kann.«
»Wir haben uns bereits getrennt!« Ein Schwall von Wut verlieh Grace’ Stimme zusätzliche Kraft. »Kein Therapeut der Welt könnte dieses Schlamassel wieder einrenken. Und, Sarah, selbst wenn es einen gäbe, würde ich ihn nicht engagieren wollen.«
»Sei nicht albern«, sagte Sarah. »Ihr seid seit über dreiundzwanzig Jahren zusammen. Dreiundzwanzig Jahre! Du kannst ihn jetzt nicht einfach seinem Schicksal überlassen!«
Grace holte einmal tief Luft, um Kraft zu schöpfen.
»Sarah, ich habe ihn bereits verlassen«, sagte sie entschieden. »Und ich werde nicht zu ihm zurückkehren. Ich habe einen Termin bei einem Anwalt, und ich werde mich scheiden lassen. Ich fürchte, du wirst damit leben müssen, Schatz. Deine Mum und dein Dad haben sich getrennt.«
»Nur dass du gar nicht meine Mum bist, oder?«, spie Sarah, bevor sie den Hörer aufknallte und Grace so tief verletzt zurückließ, dass sie sich fragte, ob sie die Familie Beamish letztendlich zu Grunde gerichtet und nicht, wie sie es sich vor all den Jahren erhofft hatte, gerettet hatte.
Neunundfünfzigstes Kapitel
N a, sieh mal einer an!«, pfiff Bruce, als Anna mit etwas Verspätung um zehn nach sieben Vladimir Darqs Haus betrat.
»Wieso? Was ist denn los?«, entgegnete Anna rasch.
»Sie, das ist los!«, sagte Bruce. »Sie sehen anders aus.«
»Sie tragen einen V-Ausschnitt und kein Schwarz, gut gemacht!«, sagte Jane und gab ihr die üblichen Küsse auf beide Wangen. »Ich finde, dieser Blauton ist genau Ihre Farbe. Was meinen Sie, Vladimir?«
Anna spürte, wie ihre Wangen rot aufglühten, als sie auf einmal von dem ganzen Raum so viel Aufmerksamkeit bekam. Vor allem als Vladimir zu ihr herüberkam und sie gebannt zu mustern begann.
»Ja, das steht Ihnen gut, Anna.« Dann stöhnte er auf: »Die Schultern, Anna, sie hängen schon wieder herunter. La dracu! Sie treiben mich in den Wahnsinn!« Und mit diesen Worten stolzierte er wieder davon, als hätte er auf einmal sehr schlechte Laune.
Bruce verzog das Gesicht und flüsterte Jane zu: »Was hat er denn?« Aber Jane zuckte nur die Schultern.
»Er läuft jetzt schon seit zehn Minuten so auf und ab«, flüsterte sie Anna zu.
»Es ist nicht unsere Schuld, dass wir zu spät gekommen sind. Wir mussten einer Umleitung folgen, da ein Lastwagen eine Panne hatte und die Straße gesperrt war«,
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