Ein Kerl macht noch keinen Sommer
wie sie ihrer Tochter erklärt hatte, neunundfünfzig, nicht neunundachtzig. Er würde eben lernen müssen, seine Wäsche selbst in die Waschmaschine zu stecken und sie anschließend zu bügeln. Aber trotzdem, gleichgültig zu sein und in erster Linie sich selbst zu schützen, das war ihr noch immer ein bisschen fremd.
»Ich schenke Ihnen ein Glas Wein ein«, sagte Niki. Er und Christie saßen in dem Patio im Garten und genossen den milden Spätnachmittag.
»Na ja, wenn Sie darauf bestehen.«
»Und ob ich das tue«, sagte Niki. »Ein schöner eisgekühlter Pinotage Rosé für Madame.« Er reichte ihr ein Glas mit einem langen, dünnen Stiel.
»Danke, Niki.«
Er starrte sie noch lange an, nachdem er ihr den Wein gereicht hatte, was sie verwirrte. Dann begriff er auf einmal, dass er sie in Verlegenheit brachte, und er entschuldigte sich.
»Es tut mir leid, Grace, verzeihen Sie. Ich habe eben nur daran gedacht, was Sie in letzter Zeit alles durchgemacht haben. Das würde Ihnen niemand ansehen. Sie sind so erstaunlich … gefasst. Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen.«
»Innerlich bin ich es nicht, Niki, glauben Sie mir.« Grace rieb etwas Gruyère in die Weißweinsauce. »Dieses Wochenende geht mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich frage mich ständig: ›Was wäre, wenn …‹. Was, wenn niemand gekommen wäre? Was, wenn man mich auf der Arbeit nie Ihrer Schwester zugeteilt und sie nicht Alarm geschlagen hätte? Wenn ich keine Tablette nehme, dann rauben mir diese ständigen Fragen den Schlaf, und wenn ich irgendwann doch einschlafe, dann träume ich, dass ich wieder mit Gordon zusammenlebe, und fahre fast zu Tode erschrocken hoch.«
Sie ließ die Käsereibe fallen, und Niki war im selben Augenblick zur Stelle, um sie aufzuheben, als sie sich danach bückte. Sie stießen mit den Köpfen zusammen, und Niki streckte eine Hand aus, um ihr besänftigend über den Kopf zu streichen.
»O Gott, Grace, es tut mir SO leid. Alles okay mit Ihnen?«
»Alles bestens«, sagte Grace. Sie lachte, obwohl sie im ersten Moment einen stechenden Schmerz verspürte. »Sie haben einen echten Dickschädel, wissen Sie.«
»Russische Gene«, sagte Niki. »Unsere Vorfahren haben dicke Schädel entwickelt, als sie vor der Revolution flohen.«
Er nahm seine besänftigenden Finger von ihrer Kopfhaut, blieb aber in ihrer Nähe.
»Grace …«, begann er mit seiner herrlich tiefen, klangvollen Stimme. »Grace, ich finde, Sie sind einfach wundervoll. Mehr wollte ich gar nicht sagen.«
Eine plötzliche Spannung baute sich zwischen ihnen auf, und Niki spürte, dass Grace nicht bereit dafür war, daher wich er einen Schritt von ihr zurück und lockerte die Stimmung wieder etwas auf. »Und es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen um ein Haar den Schädel eingeschlagen hätte.«
»Ich werd’s überleben.« Grace war heiß und kalt zugleich, und sie war verwirrt, aber sie überspielte es. »Ich hoffe nur, dass ich mich nach dieser Gehirnerschütterung noch an das Rezept erinnern kann.«
»Wenn nicht, der Asiatische Drache ist gleich um die Ecke. Da gibt’s die besten Frühlingsrollen der westlichen Welt. Jedenfalls – Na sdarowje , wie wir Russen sagen!« Er erhob sein Glas auf Grace. »Auf Ihr Wohl. Und vor allem natürlich auf das Ihres Schädels. Ich werde zu meinen Göttern flehen, dass er sich rasch erholt.«
»Zum Wohl, Niki.« Grace erhob ihr Glas auf ihn und hielt es vor sein freundliches, lächelndes, gut aussehendes Gesicht.
Vladimir wartete vor dem Darq House, eine hochgewachsene, ernste Gestalt mit seltsamen, schönen Augen, die in der Auffahrt nach Anna Ausschau hielten. Sie schluckte, als er ihr die Wagentür öffnete und eine Hand ausstreckte, um ihr aus dem Wagen zu helfen. Es war die Hand, die ihr Herz berührt hatte.
»Letzter Dreh heute, Anna«, sagte er. »Sind Sie bereit?«
»Und ob«, sagte sie, während sie dachte, wie kühl seine Haut doch war, trotz der herrlich warmen Abendluft.
»Hi, Süße«, rief Bruce herüber. Mark warf ihr eine Kusshand zu, Chas winkte, Flip hielt einen Kaffee für sie bereit, Leonid nickte ihr zur Begrüßung höflich zu, Jane umarmte sie fest, und Maria drückte sie auf einen Stuhl und begann, ihr Gesicht zu reinigen. Anna spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und sie hüstelte sie rasch weg, bevor Maria ihr einen leichten Klaps auf die Beine gab.
Für den ersten Teil des Abends wurde ihr ein »natürlicher Look« geschminkt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mark den
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