Ein Kerl macht noch keinen Sommer
und blau geprügelt hat. Er war ein Dreckskerl.« Raychels Stimme versagte. Elizabeth holte ihr ein Glas Wasser.
»Hat er dich auch geschlagen?« Sie musste sie fragen, aber sie wollte die Antwort nicht hören.
»O ja. Ich habe genauso viel abgekriegt wie David, wenn er einen seiner Tobsuchtsanfälle hatte. Obwohl David versucht hat, die Prügel an meiner Stelle einzustecken. Er hat sich immer dazwischengeworfen und Lunns Aufmerksamkeit auf sich selbst gelenkt – alles nur für mich.«
»Hat Bev ihn denn nicht … davon abgehalten?«
»Nur einmal. Sie war meistens zu benebelt, oder sie hat sich nicht mit ihm angelegt, weil sie Angst hatte, sie würde selbst Prügel beziehen. Aber ich weiß noch, wie er einmal mit einem Rohrstock auf meine Beine eingeschlagen hat, und da hat meine Mutter gesagt: ›Du machst ihr noch Striemen!‹, und dann hat er aufgehört. Wir hatten zu viel Angst, es jemandem zu sagen, und solange es keine sichtbaren Spuren dafür gab, dass wir mit einem Sadisten zusammenlebten, hat auch niemand etwas geahnt.
Ich glaube, zeitlich kann ich das alles gar nicht mehr richtig einordnen, aber David und ich wurden unzertrennlich. Wir haben uns ein Zimmer geteilt, und abends haben wir darüber geredet, was wir tun würden, wenn wir groß genug wären, um wegzulaufen. Und dann, eines Tages, hat die Schule angerufen, da man sich Sorgen wegen ein paar blauen Flecken an Davids Beinen machte, und Nathan Lunn, der ach so sensible, ist ausgerastet und hat ihn deswegen fast zu Tode geprügelt. Er hat David eine Rippe gebrochen, und eine Lunge wurde perforiert, als er auf ihn eingeprügelt hat. Ich bin losgerannt, wollte zu dem Laden in unserer Straße laufen, um die Polizei zu rufen, und Lunn ist mir nachgerannt, und ich dachte, ich wäre in einem Albtraum.«
Elizabeth hielt ihre Kehle umklammert. Sie fühlte sich, als würde sie selbst von Erinnerungen heimgesucht, als wäre sie selbst dieses verängstigte, hilflose Kind, das vor einem Mann davonlief, der ihm etwas Böses antun wollte.
»Ich habe es nicht bis zu dem Laden geschafft, Lunn hat mich schreiend zurück nachhause gezerrt, aber die Ladeninhaberin hatte ihn gesehen, und sie hat zum Glück die Polizei gerufen, sonst hätte er uns beide umgebracht«, fuhr Raychel fort. »Die Polizei hat mich ins Krankenhaus gebracht, für David kam ein Krankenwagen; er lag wochenlang auf der Intensivstation. Nathan Lunn ist abgehauen, aber sie haben ihn bald geschnappt. Mum hat gar nichts davon mitgekriegt, sie lag völlig benebelt oben. Hochschwanger und vollgepumpt mit Heroin. Ich verstehe nicht, wie dieses kleine Mädchen überhaupt so lange in ihr überleben konnte. Sie wurde im siebten Monat tot geboren, als Mum in Untersuchungshaft war. Sie hat versucht, ihre bedauernswerten Umstände auszunutzen, um eine leichtere Strafe zu bekommen, obwohl sie sich nie um irgendjemanden als sich selbst geschert hat. Und bei dem Richter kam sie damit sowieso nicht durch.«
Elizabeth weinte, aber jetzt waren es Tränen der Wut. Sie dachte an ihren eigenen Sohn und daran, wozu sie im Stande wäre, wenn sie herausfinden sollte, dass ihm jemand etwas antat.
»David und ich wurden in Pflege gegeben. Irgendein Idiot entschied, dass es das Beste für uns wäre, getrennt zu werden. Aber wir hatten diesen Pakt geschlossen, dass wir uns, sollten wir je getrennt werden, an meinem sechzehnten Geburtstag um zwölf Uhr mittags unter Big Ben treffen würden, genau zum Glockenschlag. Und als ich hinkam, wartete er dort auf mich. Er war ein Baum von einem Mann. Er hatte angefangen, seine Muskeln gezielt aufzubauen, damit er uns beide immer beschützen könnte. Er ist, selbst heute noch, besessen davon, immer groß und stark zu bleiben.
David hat den Namen dieser großen, verlässlichen Uhr angenommen, und ich nannte mich Raychel, denn das war der Name der Ladeninhaberin, die die Polizei gerufen hat. Wir haben unseren Nachnamen zu Love geändert, einfach weil es uns gefiel. Wir sind immer wieder umgezogen, ohne je irgendwo wirklich sesshaft zu werden, bis Ben den Job hier bekommen hat.«
Elizabeth wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihre Welt war von diesen Enthüllungen völlig auf den Kopf gestellt worden, alte Loyalitäten und Liebesschwüre zählten von einem Augenblick zum anderen gar nichts mehr. Damit hatte sie nicht gerechnet, nicht einmal in ihren schlimmsten Albträumen. Und Elizabeth Silkstone hatte noch immer schreckliche Albträume.
»Das heißt«, sagte Raychel jetzt mit
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