Ein Kind, das niemand vermisst
Fall sehr gründlich ermitteln müssen.«
Mrs Dunn zog die Nase kraus, was ihr Ähnlichkeit mit einer verdorrten Pflaume verlieh. Er schätzte sie auf Ende vierzig, ihre Stimme hingegen klang wie die einer zwanzigjährigen Prostituierten.
»Sicher doch«, säuselte sie und ließ ihn endlich ins Haus eintreten. »Wenn es nach mir ginge, würde Mia auf eine Privatschule gehen. Aber mein Mann besteht auf eine staatliche Schule, er meint, dass stärkt den Charakter.« Sie schnaubte verächtlich, blieb am Treppengeländer stehen und rief nach ihrer Tochter, die keine zwei Sekunden später am obersten Treppenabsatz erschien, ganz so als hätte sie auf der Lauer gelegen. »Auf einer Privatschule gibt es solche Mädchen wie diese Chloe nicht, die einfach davon laufen und ihre Mitschüler der ständigen Befragungen und Belästigungen der Polizei aussetzen.«
Cunningham öffnete den Mund und schloss ihn sogleich wieder. Darauf fiel selbst ihm nichts ein.
Mia Dunn war ein hageres Kind mit einem langen Gesicht, fransigem fast schwarzen Haar und stechend blauen Augen, die zu weit auseinander standen. Sie schien kaum zu blinzeln und erinnerte Cunningham an das Mädchen aus einem Horrorfilm, dessen Titel ihm nicht einfallen wollte.
Mrs Dunn führte Cunningham ins Wohnzimmer, wies ihm einen Platz in Türnähe zu, während sie selbst Platz am Fenster nahm, wo sie den Hund im Auge behalten konnte, der genüsslich an einem Knochen kaute. Mia hingegen verharrte im Türrahmen, die Mundwinkel nach unten gezogen, als hätte man ihr das Lieblingsspielzeug entrissen. Erst nach einem strengen Blick ihrer Mutter setzte sie sich auf die Couch.
»Meine Tochter heißt auch Mia«, begann Cunningham und schenkte dem Mädchen ein, wie er hoffte, freundliches Lächeln. Mia verzog keine Miene. Sie starrte ihn einfach an, ohne zu blinzeln und ab und zu sah es sogar so aus, als blickte sie einfach durch ihn hindurch.
»Beeindruckend. Fangen Sie Gespräche mit Kindern immer auf diese Art an?« Ihre Stimme klang monoton und gelangweilt.
»Nein, meine Tochter heißt wirklich Mia. Nun ja, eine meiner Töchter, ich habe zwei.«
»Wie heißt die Zweite?«, fragte sie ebenso gelangweilt.
»Amber.«
Wie ihre Mutter kurz zuvor zog sie ihre Nase kraus. »Das ist ein furchtbarer Name.«
Cunningham holte einen Notizblock und Kugelschreiber aus seiner Manteltasche und blickte Mia mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. Lächeln zog bei der Kleinen ganz offensichtlich nicht. »Deine Lehrerin sagte mir, dass du öfter mit Chloe die Pausen verbringst.«
Keine Reaktion. Sie starrte ihn einfach nur an. Nach einer Weile verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ist das eine Frage?«
»Das ist...eher eine Feststellung.« Er begann sich am Kinn zu kratzen, das immer dann zu jucken begann, wenn er sich unwohl fühlte oder nervös wurde.
»Haben Sie auch eine Frage?« Die Langeweile war nun aus ihrer Stimme verschwunden. Doch er meinte einen ironischen Unterton heraus zu hören, den er einer Zehnjährigen eigentlich nicht zugetraut hätte.
»Über was habt ihr so gesprochen? Hat sie mal irgendwann erwähnt, ob sie ein Versteck hat oder Freunde außerhalb der Stadt?«
»Nein.«
»Irgendwas hat sie doch sicherlich mal erzählt. Über ihr Zuhause, ihre Schwester, über Leute aus dem Chat, oder über Hobbies.«
»Nein.«
Das Jucken wurde stärker. »Das glaube ich nicht. Sie muss irgendwas gesagt haben, kein Mensch bleibt die ganze Zeit stumm, wenn er fähig ist zu sprechen.«
Mia seufzte theatralisch. »Ich muss zur Toilette.«
»Okay«, sagte Cunningham und klappte den Notizblock zu. »Ich warte solange.«
»Nein.«
Er spürte, wie ihm die Geduld ausging. »Mia, hör zu-«
»Das hat Chloe gesagt. Ich muss zur Toilette. Sie musste immer in der großen Pause auf die Toilette und wir haben dann bei den Eichen auf sie gewartet und sind dann hinterher über den Schulhof geschlendert. Olivia und ich haben uns meistens über Janis Clark lustig gemacht und Mia hat einfach zugehört. Sie hat nicht mal über unsere Witze gelacht.«
»Hat sie nie über ihr Zuhause gesprochen?«
Mia schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter ist eine Trinkerin. Das weiß doch jeder. An Chloes Stelle würde ich sie auch mit keinem Wort erwähnen.«
»Chloes Schwester hat uns erzählt, dass ihr euch auch öfter außerhalb der Schule getroffen habt. Ist das wahr?«
»Wir haben Tennis gespielt. Olivia und ich. Sie hat zugeguckt.«
»Und nichts gesagt, nehme ich an.«
Mia verzog ihre
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