Ein Kind, das niemand vermisst
...«
»Wir können das nachprüfen, ob der Anruf von dir kam, das weißt du, oder?«
»Ich war bei meiner Freundin. Fragen sie ihren Vater, er kann es bezeugen.«
»Das habe ich bereits.«
»Was wollen Sie dann von mir?« Sie riss die Tür auf und rannte durch den Flur ins Treppenhaus.
Der Vater ihrer Freundin, ein hagerer Mann mit Schnurrbart, der Arbeitskleidung und Gummistiefel trug, blickte fragend zu Cunningham. Dieser winkte ihn zu sich.
Fast ängstlich ging der Mann auf ihn zu.
»Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Libby wieder zurück nach Hause oder woanders hingeht, ja?«
»Auch, wenn sie in die Schule geht?«
»Nein. Ich meinte, wenn Sie nicht mehr bei ihnen wohnt.«
Der Mann nickte, wandte sich ab und ging.
Cunningham griff nach seiner Jacke, als sein Telefon zu klingeln begann. Er überlegte es zu ignorieren, denn eigentlich wollte er nur noch zu Hause. Doch sein Pflichtgefühl setzte sich durch. Seufzend nahm er den Hörer ab.
»Cunningham«
»Du musst sofort nach Hause kommen. Es ist etwas passiert.«
Sein Herz begann zu pochen. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte und verfestigte den Griff um den Hörer. »Gemma, was ist los?«
»Ethan. Er kam betrunken nach Hause und hat das halbe Wohnzimmer auseinander genommen. Als ich ihn davon abhalten wollte, einen Stuhl aus dem Fenster zu werfen, hat er mich geschubst und ist in sein Zimmer gelaufen. Er hat sich eingeschlossen und macht die Tür nicht auf. Die Mädchen hatten Angst, ich habe sie zu Abby rüber geschickt.«
»Bist du okay?«
»Mir geht’s gut. Aber ich habe Angst, dass Ethan etwas Dummes anstellt.« Sie schluchzte.
»Ich komme sofort.« Er legte auf und stürzte aus dem Büro.
Chloe war froh, als Richie weg war und sie wieder in ihr Bett kriechen konnte. Die Fotos hatten ihr keinen Spaß gemacht und Richie hatte sie dabei immerzu so merkwürdig angesehen. Als sie sich geweigert hatte, den Bikini auszuziehen war er wütend geworden und hatte sie in ihr Zimmer geschickt. Sie solle über ihr undankbares Verhalten nachdenken, hatte er gesagt, abends würde er wiederkommen. Bis dahin sollte sie unten bleiben und auch kein Essen bekommen. Tränen rollten über ihre Wangen, aber sie musste leise weinen. Die Frauen schliefen. Als Chloe zurück ins Zimmer gekommen war, hatte sie Abena schlafend auf der Matratze vorgefunden und eine andere Frau im unteren Etagenbett. Sie hatte mit dem Kopf zur Wand gelegen, so dass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, sondern nur das lange schwarze Haar.
Erschöpft ließ sie sich auf das Kissen fallen und schloss die Augen. Sie wusste nicht, ob sie eingeschlafen war oder nur gedöst hatte, als jemand sie an der Schulter berührte.
Sie fuhr hoch und sah in das Gesicht einer Asiatin. »Ich bin Yuna.« Ihre Stimme klang sehr weich und hell, und als sie lächelte, fühlte Chloe zum ersten Mal seit Tagen so etwas wie Geborgenheit, auch wenn sie die Frau erst ein paar Sekunden gesehen hatte. »Hast du Hunger«?
Chloe nickte. »Ich hol dir was, warte.« Sie verschwand nach oben und kam kurz darauf mit einem Sandwich zurück. »Danke«, sagte Chloe und biss gierig ein Stück ab.
»Kein Problem.«
»Wo ist Abena? Arbeiten?«
Yuna schüttelte den Kopf. »Sie hat was zu erledigen. Paul arbeitet in der Autowerkstatt und kommt erst später nach Hause. In der Zeit ist es immer sicher, sich aus dem Kühlschrank zu bedienen.«
Yuna hatte nur einen ganz leichten Akzent. Sie musste schon länger in England leben, schoss es Chloe durch den Kopf.
»Paul ist gar nicht da?«
»Nein. Iss schön auf und leg dich wieder hin. Ich muss auch noch mal kurz weg.«
Chloe hätte sie am liebsten gebeten bei ihr zu bleiben. Sie hatte genug vom alleine sein. Sie hatte Angst. Doch sie sagte nichts. Yuna lief die Treppe hoch und kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss. Was sollte sie jetzt bloß tun? Sie konnte weglaufen. Weg von Paul, weg von Richie. Aber wohin? Sie kannte hier niemanden. Vielleicht sollte sie Libby anrufen. Doch was sollte ihre Schwester schon tun? Chloe blickte auf die Uhr und fragte sich, wann Richie zurück kommen und ob er dann immer noch wütend sein würde. Verlangte er weitere Fotos von ihr? Bei dem Gedanken vergrub sie den Kopf ins Kissen und weinte.
20
Cunningham brauchte knapp fünfzehn Minuten nach Hause. Gemma erwartete ihn bereits an der Haustür. Ihr Gesicht war blass, die Augen rot und ihre Unterlippe zitterte.
Cunningham nahm sie behutsam in den Arm. »Geh rüber zu Abby,
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