Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
Madame Colbert mit dem dunkel schimmernden, vollendet frisierten Haar und der gepflegten Haut, die gertenschlanke, köstliche Natascha mit ihrem Lachen und den blonden, aufrichtigen und ernsten Monsieur Fauvel mit der Narbe, der über Nacht aus einer Rechenmaschine zu einem Jungen und Liebhaber geworden war.
Alle möglichen Erinnerungen und Bilder schossen in ihrem Kopf durcheinander.
Einen Augenblick lang sah sie die gefurchte Stirn und den konzentrierten Gesichtsausdruck des Einrichters, der vor ihr kniete, den Mund voller Stecknadeln. Noch einmal spürte sie den Flor des dicken grauen Teppichs unter den Füßen und roch den süßen, erregenden Duft im Innern des Hauses Dior.
Das Stimmengemurmel der Zuschauer und Chefs in dem grau-weißen Salon stieg wieder in ihr auf, und schon war sie selber dort; durch Tränen blinzelnd sah sie die Mannequins, eins schöner gekleidet als das andere in den reizendsten Kleidern, Kostümen, Komplets, Abendkleidern und Pelzen, kamen sie schiebend, schwebend oder gleitend in den Raum — drei Schritte und eine Drehung — wieder drei Schritte und noch eine Drehung — dann herunter mit dem pastellfarbenen Nerz- oder dem dunklen Mardermantel, der nun über den weichen Teppich hinterhergezogen wurde — ein Schwung des Kopfes, noch eine wirbelnde Drehung, und fort waren sie, um einer anderen Platz zu machen.
Im nächsten Augenblick befand sich Mrs. Harris in jenem Teil mit der köstlichen Atmosphäre weiblicher Welten, die aus dem Rascheln von Seide und Satin, dem vielfältigen Duft von Parfums, dem bienengleichen Geflüster der Verkäuferinnen und Schneiderinnen und unterdrücktem Lachen bestanden.
Dann wieder saß sie in der Sonne unter einem wunderbar blauen Himmel auf einer Bank am Blumenmarkt, umgeben von den Kreationen der Natur selber, Blumen in unvergleichlichen Formen und Farben, die ihre eigenen Parfums ausatmeten. Und neben ihr ein stattlicher alter Aristokrat, der sie verstand und als seinesgleichen behandelte.
Und immer wieder kamen ihr die Menschen ins Gedächtnis, die sie näher kennengelernt hatte: sie sah den Ausdruck auf den Gesichtern von Fauvel und Natascha an dem Abend, als sie sie im Pré Catalan umarmten, sie spürte den warmen Druck von Madame Colberts Armen, als sie sie vor der Abreise geküßt und ihr zugeflüstert hatte: «Sie haben mir viel Glück gebracht, meine Liebe...»
Als Mrs. Harris so an die Französin dachte, fiel ihr ein, wie sich Madame Colbert gemüht hatte, ihr behilflich zu sein, ihren eitlen, närrischen Wunsch zu erfüllen, ein Kleid von Dior zu besitzen. Wäre sie mit ihrem gescheiten Vorschlag nicht gewesen, hätte das Kleid England niemals erreicht.
Und Mrs. Harris überlegte, daß der Schaden an Versuchung vielleicht nicht einmal endgültig zu sein brauchte. Ein Brief an Madame Colbert würde sicher zur Folge haben, daß sie unverzüglich eine neue jettbestickte Samtbahn erhielte, genau wie die verbrannte. Eine tüchtige Schneiderin könnte sie einsetzen, und das Kleid wäre so gut wie neu. Und doch — ob es je wieder dasselbe wäre? Diese flüchtig auftauchende Frage war von sonderbarer Wirkung auf Mrs. Harris. Sie brachte den Tränenstrom aus ihren Augen zum Versiegen und half ihr wieder auf die Beine. Als sie sich in dem blumenüberladenen Zimmer umsah, kam ihr die Antwort wie eine jähe Inspiration.
Es wäre nicht mehr dasselbe. Es würde nie wieder dasselbe sein. Doch sie selber auch nicht.
Denn es war ja gar nicht so sehr ein Kleid, das sie sich gekauft hatte, als ein abenteuerliches Erlebnis, das ihr bis zum Ende ihrer Tage bleiben würde. Nie wieder würde sie sich einsam oder überflüssig Vorkommen. Sie hatte sich in ein fremdes Land gewagt, zu einem fremden Volk, das ihr als zweifelhaft und verdächtig geschildert worden war.
Sie hatte Wärme und Menschlichkeit gefunden — Männer und Frauen, für die Verständnis und Liebe die Triebfedern des Lebens waren. Sie hatten sie fühlen lassen, daß sie sie um ihrer selbst willen liebten.
Mrs. Harris klappte den Koffer wieder auf und nahm Versuchung heraus. Noch einmal betastete sie die verbrannte Stelle und sah, wie leicht die Bahn ausgewechselt und der Schaden behoben werden könnte. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte es behalten, wie es war, unberührt von anderen Fingern als von denen, die jeden Stich aus Liebe und Verständnis für das Herz einer andern Frau genäht hatten.
Mrs. Harris preßte das Kleid an den mageren Busen, drückte es so fest, als ob es ein
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