Ein Kleid von Dior, Freund mit Rolls-Royce, Mrs. Harris fliegt nach Moskau
lebendiger Mensch wäre und schmiegte das Gesicht in die weichen Falten des Stoffes. Abermals flössen Tränen aus den kleinen schlauen Augen und zogen ihre Spuren über die Apfelbäckchen, aber es waren keine Tränen des Jammers mehr.
So stand sie da, wiegte sich hin und her und umarmte ihr Kleid, und in ihm umarmte sie alle: Madame Colbert, Natascha, André Fauvel, bis hinab zu der letzten namenlosen Arbeiterin, ja, sie umarmte die ganze Stadt, die ihrer Erinnerung einen so kostbaren Schatz von Verständnis, Freundschaft und Menschlichkeit geschenkt hatte.
Freund mit Rolls-Royce
Aus dem Englischen von
Hansjürgen Wille und Barbara Klau
Für Katie Fairman
1
John Bayswater streckte den Arm aus und stellte den Fernsehapparat ab, und alle drei — Mrs. Harris, Mrs. Butterfield und er, der flotte, gut aussehende ältere Chauffeur — blieben noch ein paar Augenblicke im Halbdunkel sitzen und sahen zu, wie der Lichtfleck in der Mitte des jetzt schwarzen Bildschirms langsam erlosch.
In den vergangenen fünfundvierzig Minuten hatte man eine pseudointellektuelle Sendung mit dem Titel: «Was meinen Sie?» gesehen. Eine aus einem berühmten Autor, einem Anwalt und einem Parlamentsmitglied bestehende Gruppe hatte ihre Meinung über Fragen geäußert, die die Zuhörer eingereicht hatten, wobei der Ehrenwerte Ronald Puckle, Mitglied des Unterhauses, die beiden anderen ziemlich an die Wand gespielt und sich immer wieder in den Vordergrund gedrängt hatte.
«Ein gräßlicher Kerl», sagte Mrs. Harris.
«Ich finde, er hat einige äußerst kluge Bemerkungen gemacht», sagte Mr. Bayswater, «zumal als er empfahl, die Kraftfahrzeugsteuer herabzusetzen. Es ist einfach empörend, was wir für unsere Rolls-Royce bezahlen müssen. Und erst einmal die armen Menschen...»
«Der ist ausgekocht», sagte Mrs. Harris. «Verspricht jedem Gott und die Welt. Ich kenne die Sorte.»
«Ich werde Wasser aufsetzen und die Sandwiches machen», sagte Mrs. Butterfield und erhob sich mühsam aus dem tiefen Sofa, auf das sie wegen ihres Gewichts und Umfangs ein Anrecht hatte.
Wie jeden Donnerstagabend, hatte man sich zu Tee und Fernsehen im Wohnzimmer der Wohnung von Ada Harris, London, Battersea, Willis Gardens 5, versammelt.
Von Punkt acht bis elf sahen Mrs. Harris, die unternehmungslustige Londoner Putzfrau, Violet Butterfield, ihre beste Freundin, und Mr. John Bayswater, Chauffeur bei reichen Leuten, dessen Status sich schwer bestimmen ließ, den aber Ada Harris bescheiden als einen ihr gut bekannten Herrn bezeichnet hätte, das Fernsehprogramm. Punkt elf tranken sie Tee, aßen belegte Brötchen und kleine Kekse mit grellbunter Glasur und unterhielten sich über das, was sie gesehen hatten. Um elf Uhr fünfundvierzig, nach der Uhr auf dem Kaminsims, die von zwei Cupidos getragen wurde, erhob sich Bayswater, räusperte sich, schob die gestärkten Manschetten in die Ärmel seines elegant geschnittenen Jacketts zurück und sagte: «Nun, meine Damen, ich danke Ihnen für einen sehr angenehmen Abend» und ging.
Die beiden Frauen hatten Bayswater auf dem Schiff kennengelernt, als sie nach Amerika fuhren, wo sie beide von einem Filmmagnaten und dessen Frau, Mr. und Mrs. Joel Schreiber, angestellt worden waren. Er begleitete den Marquis de Chassagne, den französischen Botschafter in den Vereinigten Staaten, und dessen Rolls-Royce.
Mit Hilfe Bayswaters und seines Arbeitgebers, des Marquis, war es Mrs. Harris gelungen, einen kleinen Jungen nach Amerika einzuschmuggeln, wo sie seinen lange verschollenen Vater suchen wollte.
Aber da sie alle in London geboren und aufgewachsen waren, hatten sie sich so fern von dieser Stadt auf die Dauer nicht glücklich gefühlt. Jetzt waren sie wieder in ihrer vertrauten Umgebung, wo Mrs. Harris als Putzfrau und Mrs. Butterfield als Köchin stundenweise tätig waren.
Mrs. Harris und Mr. Bayswater hatten noch etwas Weiteres gemeinsam. Sie arbeiteten jetzt nämlich bei demselben Mann, Sir Wilmot Corrison, einem Großkapitalisten, der hinter den Kulissen der Mittelpartei einflußreich war. Bayswater war der Chauffeur von Sir Wilmots neuem Golden Cloud Rolls-Royce, während Mrs. Harris jeden Morgen für ein paar Stunden in das kleine Haus hinterm Eaton Square kam, das Sir Wilmot als pied à terre in London hatte, damit er, wenn er bis spätabends im Büro bleiben mußte oder keine Lust hatte, in sein Landhaus in Buckinghamshire zurückzukehren, dort schlafen konnte.
Zweimal wöchentlich war auch John Bayswater
Weitere Kostenlose Bücher