Ein kleines Stück vom Himmel nur
rührt, dass er mehr weià als ich und es mir nicht erzählen wird. Es tut mir leid um das ungezwungene Verhältnis, das wir hatten, ehe ich diesen Orden hervorgeholt habe. Chris Mackenzie ist mir sehr sympathisch, und ich bedauere die plötzliche Distanz.
Ich stecke das Kästchen mit dem Orden in meine Tasche zurück. Wir gehen durch das Haus in Richtung Tür.
»Danke, dass ich kommen durfte«, verabschiede ich mich etwas unbeholfen.
»Reden Sie mit Nancy, okay?« Der Anflug eines Lächelns verzieht seine Mundwinkel. »Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Das mache ich.«
Ich gehe zu meinem Auto und blicke noch einmal zurück. Er steht in der Tür und schaut mir hinterher. Ein groÃer, gutaussehender Mann mit einem frischen Schauer aus Rosenblättern im Haar.
Ein Mann, der offensichtlich viel mehr über meine Familie weià als ich. Ein Mann, der nicht die Absicht hat, mich aufzuklären.
Ohne auf die StraÃe zu achten, fahre ich gedankenverloren dahin. In mir herrscht ein Tohuwabohu unklarer Gefühle und unreifer Gedanken. Ich versuche, aus dem schlau zu werden, was Chris mir erzählt hat â oder besser gesagt, nicht erzählt hat â, komme aber nicht weiter. Ich habe das Gefühl, als müsse ich mich durch klebrige Spinnweben kämpfen; überall bleibe ich hängen, jeder Versuch, mich freizumachen, führt nur noch tiefer in das Netz. Ich bin vollkommen verwirrt. Keine der Erklärungen, die ich mir für Chrisâ merkwürdige Reaktion zurechtlege, scheint mir schlüssig zu sein. AuÃerdem drückt mich noch eine bleischwere Last: Mac ist tot, und das seit zwei Jahren. Diese Nachricht muss ich Nancy irgendwie beibringen, und obwohl sie vermutlich schon damit gerechnet hat, graut mir vor dieser Aufgabe.
Einen Moment denke ich nicht mehr an die Rätsel, die Chris mir aufgegeben hat, sondern stelle mir vor, wie es sein muss, wenn man vierundachtzig Jahre alt ist â und die letzte Ãberlebende aus der eigenen Generation. Die Einsamkeit, wenn aus dem Kreis der Altersgenossen einer nach dem anderen verstirbt, bis niemand mehr da ist, mit dem man die Erinnerungen an die Erlebnisse teilen kann, die das Leben geprägt haben. Ich erlebe einen kurzen Vorgeschmack darauf, wie trostlos es sein muss, allein durch eine kahle Landschaft zu stapfen, während man eine Fähigkeit nach der anderen verliert und am Ende des Weges nur noch der Tod wartet. Plötzlich bin ich so unsagbar traurig, dass ich nicht nur weinen, sondern am liebsten losheulen würde wie ein Wolf.
Mir wird auch bewusst, wie flüchtig das Leben ist. Wahrscheinlich kommt es Nancy so vor, als sei sie gerade noch jung gewesen â viel jünger als ich. Jung, hübsch, gesund und kräftig und voller Träume. Weil sie sich mir gegenüber geöffnet hat, kann ich sie sehen, wie sie damals war, und wenn ich mir vorstelle, wie kurz das eigentlich erst her ist, bin ich erschüttert, und es macht mir, ehrlich gesagt, auch Angst. Jahrein, jahraus sehen wir wieder, wie die Natur sich neu entfaltet, wie grüne Knospen entstehen, zu voller Blüte aufgehen und dann verwelken und sterben. Jedes Jahr werde ich wieder melancholisch, wenn die Blätter sich verfärben und von den Bäumen fallen. Ich kann in diesem Prozess keine Herrlichkeit erkennen, ihre rostbraune und goldene Pracht ist für mich nur ein letztes, verzweifeltes Aufbegehren der Natur. Ich wünsche mir immer, dass sie wieder frisch und grün wären.
Ein Menschenleben kommt einem am Ende wahrscheinlich genauso kurz vor â oder noch kürzer, während die Tage, Monate und Jahre in halsbrecherischer Geschwindigkeit an einem vorbeirasen. Wieder ein Geburtstag. Wieder Weihnachten. Ist es schon wieder so weit? Nein, das kann doch nicht sein! Die Zeit verkürzt sich, so dass ein Leben weniger der Aufeinanderfolge von Jahreszeiten entspricht als der vergänglichen Schönheit einer Rose: An einem Tag glänzt noch der Tau auf einer fest verschlossenen Knospe, am nächsten steht sie schon in voller Blüte, und noch einen Tag später welkt sie dahin, und ihre Blütenblätter fallen herab wie Tränen. Ich habe schon ein gutes Stück meines Lebens hinter mir und weià gar nicht, wo die Jahre geblieben sind. Dabei bin ich innerlich immer noch siebzehn, voll ungeduldiger Erwartung auf das, was noch kommt.
Vermutlich ist es für Nancy
Weitere Kostenlose Bücher